Die Filme von Christopher Nolan sind ein zuverlässiger Lackmustest für die Peinlichkeit zeitgenössischer Filmkritik. So hatte der britische Regisseur mit seinem ersten Blockbuster, „The Dark Knight“ (2008), die Rezensenten bereits in Ekstase versetzt. Man sprach von einem „Geniestreich“. Was für eine düstere Atmosphäre habe er dem „Batman“-Mythos verliehen.
Ein Sinnbild moderner Verlorenheit sei ihm gelungen (stimmt, die digital bearbeiteten Atelierstraßen waren in den meisten Szenen leer). Vor allem habe unter Heath Ledger als Erzschurke „Der Joker“ brilliert (in Wahrheit war es die schlechteste Darstellung seines kurzen Lebens). Aber der unverdiente Erfolg dieses Gähnkrampf-Klassikers fand jetzt ersehnte Steigerung: Bei dem Science-fiction Film „Inception“ (2010), bereits zum „Film des Jahres“ ausgeschrieen, ließ sich auch ein Peinlichkeits-Veteran wie Claudius Seidl nicht lumpen.
Der riskierte in der Sonntags-FAZ einen Seelenstrip – über seine Betroffenheit nach Nolans neuem Meisterwerk: Wie im Traum habe er das Kino verlassen. Anderthalb Journalspalten belästigt er den Leser mit somnambulem Erfahrungsreport. Solche Lektüren lassen das Schlimmste vermuten – und man wird nicht enttäuscht…
„Krieg der Gehirne”
Was ist der zäheste Parasit? fragt Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) zu Beginn. Bandwürmer? Diverse Mikroben? Nein, ein Gedanke, der sich festgesetzt hat. Aber Cobb arbeitet nicht für die Werbung, er betreibt Wirtschaftsspionage, dringt ins Unbewußte von Unternehmern, wenn diese wehrlos sind, nämlich im Schlaf. In labyrinthischen Traumwelten anderer Leute kennt er sich aus wie kein zweiter.
Diesmal soll er aber keinen Gedanken finden, sondern einen implantieren. Er und sein Team verbinden sich mittels obskurer Schläuche mit der Traumwelt des Opfers. Dessen Unbewußtes bekämpft natürlich die Eindringlinge. Ein „Krieg der Gehirne“ findet statt, von dem Strindberg sagte, er sei schlimmer als jeder physische Kampf. Das Problem ist nur: Die Traum-Agenten kämpfen nicht nur gegen das Unbewußte des Opfers, sondern nehmen auch ihr eigenes mit. Und das ist keineswegs harmonisch.
So feiert in Cobbs Abgründen seine verstorbene Frau (Marion Cotillard) ihren destruktiven Fortbestand. Die Agenten führen also Krieg gegen fremdes und eigenes Unbewußtes. Und damit es richtig labyrinthisch zugeht, verlangt die Handlung noch einen Traum-im-Traum. Bis zu drei Traumebenen hoch. Klingt doch nach einer guten Story, denkt man sich. Ja, wäre nur ein guter Regisseur am Werk gewesen.
Flickenteppich
Nicht einer, der unzählige Anleihen kompiliert, von Solaris (Motiv der wiederkehrenden Frau), Nietzsche (Drei-Traum-Stadien-Metaphysik) oder Stanley Cubrik (2001: der sterbende Greis im großen Kachelraum), ohne all das in einen eigenen Stil, in eigene Ästhetik zu integrieren. „Inception“ ist ein zweieinhalbstündiger Stilbruch seiner selbst, ein Flickenteppich.
Der schüttelt zwar das lineare Zeitempfinden ein wenig durcheinander, erreicht aber nicht annähernd die düstere Dynamik von David Lynchs „Mulholland Drive“ oder „Lost Highway“ – zwei Beispiele, was eine Achterbahnfahrt durchs Unbewußte hergeben kann. Und da Nolan als guter Kommerzregisseur möglicht jedem was servieren will, zerstört er atmosphärische Ansätze durch mittelmäßige Action-Einlagen. Wie in „Knight Rider“ bleiben die Darsteller unter ihrem Niveau.
Nur Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard erlaubt einigen Tiefblick in verborgene Qualen. Leider nimmt sich der Film für den Aufbau ihrer Rolle kaum Zeit. Deshalb stellt sich die Distanzlosigkeit, zu der Cotillard das Publikum in Filmen wie „Chloe“ (1996) zwang, bei „Inception“ nicht ein. Ihr Rollenname „Mal“ ist ein Verweis auf Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ (Die Blumen des Bösen), deutet sie als böse Blume in Cobbs Unbewußten. Aber Christopher Nolan ist leider kein Poet, schon gar kein Baudelaire des Films.