Nach ein, zwei Sonnentagen ruft die Presse das Frühjahr aus: „Geschafft!“ freut sich die Berliner Zeitung und meint damit den langen Eiswinter. Jedoch erinnert der so überschriebene Artikel auch an die Volksweisheit: „Der Winter nimmt die Seelen mit.“
Soll heißen: Im Frühjahr steigt die Sterblichkeitsquote. Dann blüht der Mensch auf – und stirbt. Viel rascher als zur kalten Jahreszeit. Aber auch manch Überlebendem ist das Frühjahr – bei aller Daseinsfreude – der Beginn großer Unheimlichkeit, die sich bis Sommerende zieht. Der Grund? – Mit dem Frühjahr dehnen sich die Nachmittage, gleiten zuletzt nahtlos in dämmrige Abende.
Das läßt einerseits aufatmen; verursachten lange Winterabende ab 16 Uhr bei manchem doch Schwermut bis hin zur Furcht. Aber es gibt auch das Leiden an der Leere des hellen Nachmittags. In seinem dumpfen Licht findet die Angst fruchtbarsten Nährboden. Um dies zu erfassen, sollte man „Furcht (vor etwas)“ von der „Angst“ unterscheiden. Die Furchtsamen projizieren imaginäre, aber konkrete Bedrohungen ins Dunkel. Die Angst des leeren Nachmittags jedoch ist eine „grundlose“ Unheimlichkeit. In ihr verbergen sich Assoziationen von Tod und Verlorensein.
Einer, der wenig fürchtete, aber die Angst des Nachmittags gut kannte, war der Feuilletonist Alfred Kerr. In „Der Nachmittags-Tod. Ein Gebet“ (1928) erzählt er vom ängstlichen Erwachen aus unzähligen Nachmittagsschläfen. In der „Halbdämmerung des Zimmers“ dem Nichtsein des Schlafes entflohen, fragt er sich: „Wozu dies? Welchen Zweck hat es? Warum unsere Gegenwart? Was steht bevor?“
Der erste kühle Hauch weht dich an
Vor allem Sonntage mutieren am stillen Nachmittag zum „Gloomy Sunday“ (schwermütigen Sonntag), wie ein berühmtes Lied von 1936 verrät. In Maya Derens alptraumhaftem Avantgardefilm „Meshes of the Afternoon“ (Schatten des Nachmittags, 1943.) sieht die Heldin am Nachmittag eine schwarze Gestalt durch den Garten streifen. Sie folgt ihr, bis sie erkennt, daß die geheimnisvolle Fremde kein Gesicht, sondern einen Spiegel unter der dunklen Kapuze trägt. Der subtile Schrecken von „Meshes …“ entsteht gerade durch das kalifornische Sonnenlicht des Nachmittags. Am Abend gedreht, hätte das Szenario kaum Wirkung entfaltet.
Der Film zeigt keine „konkrete“ Gefahr. Man erkennt „lediglich“ den Nachmittag als Zeit des Todes. Mag die Nacht durch Aussicht auf klärendes Morgenlicht trösten – was am hellen Nachmittag verborgen bleibt, ist für immer unsichtbar, ungreifbar – unnennbar. Hinzu gesellen sich schwächer werdendes Licht und wachsende Schatten – bewußtes Erleben des nahen (Tages-) Endes.
Der erste kühle Hauch weht dich an. Dessen symbolische Bedeutung spürt man mit zunehmendem Alter. Da könnte es einem gehen wie dem Protagonisten aus William Fryer Harveys Kurzgeschichte „August Heat” (Augusthitze, 1928): Der vergißt beim Spaziergang am glühend heißen Nachmittag die Zeit, bis er zu einem Steinmetzhof gelangt. Dort liest er, auf einem Grabstein, den eigenen Namen. Und das Sterbedatum: Heute … An einem trüben Wintertag wäre das unvorstellbar.