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Interview: „Die Shoah-Epidemie“

Interview: „Die Shoah-Epidemie“

Interview: „Die Shoah-Epidemie“

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Interview
 

„Die Shoah-Epidemie“

Ist das Holocaust-Gedenken pathologisch geworden? Dient es vor allem der Durchsetzung politischer Interessen? Diese Fragen sind unerhört. Sie stammen von Avraham Burg, dem früheren Präsidenten des israelischen Parlaments, der im Interview mit der JF erklärt, warum sich Israel seiner Meinung nach endlich vom Holocaust lösen muß.
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Holocaust-Mahnmal in Berlin…
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…Avraham Burg Fotos: Pixelio/der Projektor, Wikipedia/Davud Shankbone

Herr Burg, Sie fordern, Israel möge endlich „Hitler besiegen“. Was hat es damit auf sich? 

Burg: Mein amerikanischer Verleger hat mich schon gewarnt, mit dem Titel „Hitler besiegen“ würden wir das Buch in den USA nicht verkaufen, weil es in den Ohren der Leser klinge, als handle es von militärischen Überlegungen. Doch wir Juden verstehen, was gemeint ist: Natürlich war Hitler im Mai 1945 militärisch besiegt, aber der Holocaust ist bis heute für die Juden sehr lebendig.

„Warum sich Israel endlich vom Holocaust lösen muß“ lautet der Untertitel Ihres Buches.

Burg: Laut Clausewitz beginnt mit dem Ende des Krieges die Diplomatie. Aber Juden und Deutsche waren damals in die wohl außergewöhnlichste Greueltat der Geschichte verwickelt. Das ist nichts, was einfach endet, das wirkt fort, bis heute. Ich erinnere mich, wie meine Tochter mir von der geplanten „Polenfahrt“ ihrer Klasse berichtete, die bei unseren Schülern mittlerweile üblich ist. Es heißt: „Wir gehen dahin, weil wir alle Überlebende der Shoah sind.“ Dann fahren sie und kehren als veränderte Israelis zurück.

Holocaust als wichtigste theologische Stütze der jüdischen Identität

Inwiefern?

Burg: Nun, die Shoah ist vermutlich inzwischen zu einer der wichtigsten theologischen Stützen jüdischer Identität geworden. Ich möchte aber nicht, daß meine Kinder ihre Identität auf dem schlimmsten Trauma der Menschheit gründen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Buch, wie weit das inzwischen geht: Ich war mit einem Geschäftsmann, Anfang fünfzig, verabredet. Aber zunächst mußte er eine Dienstreise nach Polen machen.

Doch unerwartet rasch rief sein Büro zurück. Was war geschehen? Bei unserem Treffen erzählte er mir alles: „Ich konnte es nicht mehr ertragen“, so mein Gegenüber, „alles kam wieder hoch in mir. Als ich in Warschau landete, war es kalt und verschneit. Wir fuhren ins Hinterland, um einige Angebote zu prüfen. Es waren nur Birkenwälder und Gebüsch zu sehen.

Wir fuhren mit dem Nachtzug weiter, stundenlang. Die Waggons ruckelten, der Schaffner war aggressiv. Dann kam plötzlich eine Fahrkartenkontrolle. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen! Polnische Züge sind zuviel für mich. Am nächsten Tag stieg ich einfach ins Flugzeug.“ Still ging ich nach Hause. Doch am Abend rief ich ihn noch einmal an und fragte: „Sagen Sie, woher sind Ihre Eltern eingewandert?“ Seine Antwort: „Aus dem Irak.“

„Die Shoah ist wie das Ozonloch, unsichtbar und doch immer da“   

Ihr Buch hat in Israel eine hitzige Debatte ausgelöst, offenbar verstehen viele Ihrer Landsleute Ihre Kritik an diesem Zustand nicht.

Burg: Ich habe viel Zustimmung erfahren, aber es stimmt, auch viel Zorn und Kritik. Ich habe uns eben den Spiegel vorgehalten. Wir haben es in Israel ja mit einer regelrechten Shoah-Epidemie zu tun: Die Shoah ist in unserem Leben inzwischen präsenter als Gott. Manchmal wundert man sich, daß es in der Bibel nicht heißt: „Am Anfang war die Shoah, und die Erde war wüst und leer.“ 

Ihr Buch ist immer wieder sehr polemisch, zum Beispiel, wenn sie den Holocaust mit dem Ozonloch vergleichen.

Burg: Polemik ist meiner Ansicht nach ein legitimes Werkzeug der Debatte. Sind sich alle einig, ist die Welt wie tot. Meinungsunterschiede aber zwingen uns, unsere Haltung zu überdenken, nur so wird Neues geboren.

Solche Vergleiche würden in Deutschland einen Sturm der Entrüstung auslösen.

Burg: Oh, die Shoah ist tatsächlich wie das Ozonloch: nicht zu sehen, aber immer präsent, abstrakt, aber folgenschwer. Machen wir ein Gedanken-Experiment: Stellen Sie sich vor, Sie reisen an einen beliebigen Ort der Welt und schlagen die Zeitung auf. Was lesen Sie? Politik, Prominente, Wetter, das Übliche eben. Nun stellen Sie sich vor, Sie reisen nicht irgendwohin, sondern nach Israel:

Was lesen Sie dort? Sie lesen garantiert irgend etwas über den Holocaust! Kein Tag, ohne daß die Medien etwas dazu bringen. Wirklich – kein Tag ohne das Erbe des Hakenkreuzes! Das alles ist schon so omnipräsent wie die Luft, die wir atmen. Es fällt uns gar nicht mehr auf. Ich aber will diesen Umstand wieder sichtbar machen. >>

Zu welchem Zweck?

Burg: Ich wünsche mir, daß wir durch eine Rückkehr zu einer angemessenen Behandlung dieses Erbes die Erinnerung daran endlich wieder in Würde wahren können und daß wir damit aufhören, es in so zynischer Weise politisch auszubeuten.

Zum Beispiel?

Burg: Wir haben die Shoah in ein Instrument gewöhnlicher Politik verwandelt. Sie ist zu unserem Eigentum geworden, das wir eifersüchtig hüten. So hat sich Israel etwa immer wieder an die Seite der türkischen Regierung gestellt, wenn es darum ging, den Holocaust an den Armeniern zu leugnen: Bis auf wenige Ausnahmen hielten sich alle israelischen Politiker stets an die türkische Propaganda. Vordergründig hat das strategische Gründe: Es geht um gute Beziehungen zu unserem einzigen islamischen Verbündeten.

Aber jeder, der unsere Psyche kennt, weiß, daß wir den Armenier-Holocaust leugnen, um zu garantieren, daß der Holocaust an den Juden unser Eigentum bleibt: „Nie wieder!“ haben wir geschworen, meinen damit aber nur Juden. „Eskimos oder Armenier interessieren uns nicht!“ bestätigte einmal ein Büroleiter des israelischen Premierministers.

Jede Nation hat ihren nationalen Mythos, in Israel ist es verständlicherweise der Holocaust. Sind Sie also nicht ein bißchen streng?

Burg: Eine 3.500 Jahre alte Kultur kann sich nicht durch zwölf Jahre NS-Verfolgung definieren. Der Holocaust ist ein Kapitel in unserer Geschichte, und zweifellos ein ganz besonderes, aber er ist nicht unsere Mythologie! Laut Umfrage meinen neunzig Prozent der Israelis, die Shoah sei das wichtigste Ereignis der jüdischen Geschichte. Verstehen Sie?

Damit ist sie inzwischen wichtiger als die Erschaffung der Welt, der Exodus, die Offenbarung der Tora, die Zerstörung der Tempel, ganz abgesehen von allen kulturellen Leistungen der Juden seitdem, ja wichtiger als selbst die Gründung des Staates Israel. Inzwischen ist die Shoah fast in alle politischen Argumente Israels eingeflochten. Nach dem Sechstagekrieg kam zum Beispiel die Parole auf, Israel dürfe niemals zu seinen Vorkriegsgrenzen zurückkehren.

Damals wurde ein Begriff geprägt, der bis heute gängig ist, er bezeichnet Israels Waffenstillstandslinie von 1949 als „Auschwitz-Grenze“ – enge Grenzen, die Israel zum Handeln zwängen. So legitimiert der Holocaust längst die schlimmsten Argumente der Rechten. Diese Uniformität, dieses orthodoxe Konzept davon, wie der Holocaust von uns zu verstehen ist, fordere ich heraus.

„Wir sind von Sicherheit besessen“

Allerdings haben schon andere Juden ausgesprochen kritisch zum Thema geschrieben, etwa Norman Finkelstein. Warum hat Ihr Buch dennoch eine so spektakuläre Wirkung entfaltet? 

Burg: Ich bin in einer privilegierten Lage, weil mir diese und weitere Autoren den Weg geebnet haben. Sicher spielt aber auch eine Rolle, daß ich aus dem Herzen des israelischen Establishment komme: Nicht nur, daß ich der Sohn des deutschen Holocaust-Überlebenden und Mitgründers des Staates Israel Josef Burg bin, ich war zudem Präsident der Jewish Agency und der World Zionist Organization, ich war Berater von Schimon Peres, Abgeordneter der Arbeitspartei und schließlich Sprecher der Knesset, des israelischen Parlaments.

Das alles hat zweifellos geholfen, meinen Thesen Popularität zu verleihen. So viele junge Leute haben mir bestätigt, mein Buch habe ihnen ermöglicht, plötzlich Fragen stellen zu können. Ich glaube, ich habe für einen Handschlag mit der jungen Generation gesorgt, und das ist es, was für mich wichtig ist. 

Sie schreiben, der Holocaust habe Israel völlig verändert. Inwiefern – außer daß er als Reminiszenz überall eingeflossen ist? 

Burg: Bis in die dreißiger Jahre kamen unsere Einwanderer, weil Israel das Land ihrer Wahl war. Manche gingen nach Amerika, andere nach Südafrika und manche eben nach Palästina. Nach 1945 dagegen realisierten wir, daß Israel anders war als die übrigen Länder, in die Juden auswanderten. Ein eigener Staat bedeutete, unabhängig zu sein von den politischen Verhältnissen in anderen Ländern, hieß eine Trutzburg zu haben.

So wurde Israel zu einer Art Bunker, einem Unterstand, einem Splittergraben. Aber die Psychologie eines Splittergrabens ist eine andere  als die eines Ortes freier Wahl. Heute sind wir bis an die Zähne bewaffnet. Wir haben eine gewaltige Armee und sind von Sicherheit besessen. Israel pflegt inzwischen eine Konfrontationsphilosophie, die sich in der Formel fassen läßt: „Die ganze Welt ist gegen uns!“

Oft habe ich das Gefühl, daß wir gar nicht mehr wissen, wie wir ohne Konflikte leben sollen. Die Shoah ist dabei zum Generator geworden, der diese Mentalität der Konfrontation speist. Letzten Endes haben wir dasselbe gemacht wie alle Tyrannen: Wir haben die Anomalie zur Doktrin erhoben und verstehen jetzt nur noch die Sprache der Spannung, der Gewalt und der Traumata.

Und wenn wir einmal ehrlich sind, müssen wir dann nicht zugeben, daß unsere eigene Politik zum wachsenden Haß auf die Juden beiträgt? Der Antisemitismus an sich ist nicht unsere Schuld, aber wir sind natürlich ein Stachel im Fleisch anderer, und das können wir nicht abtun mit der Einstellung: „Die Welt ist eben gegen uns.“ >>

Haben Sie als Teil der israelischen Elite nicht jahrzehntelang zu den von Ihnen kritisierten Zuständen tatkräftig beigetragen?

Burg: Ja, ich habe dem lange nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Man wächst damit auf und glaubt, alles sei normal so. Aber wenn man einmal darüber nachdenkt, dann merkt man, daß etwas falsch läuft.

Der Jerusalemer Historiker Martin van Creveld sieht nicht nur Israel durch den Holocaust verflucht, sondern auch Deutschland, das, so meint er, daran zu zerbrechen drohe. 

Burg: Deutschland und Israel leben in der Tat beide am Ufer der gleichen See der Schmerzen. Deshalb müssen Deutschland und Israel auch zusammenarbeiten, um diesem Leiden zu entgehen. 

Wie?

Burg: Unsere beiden Nationen, Ihr die Täter und wir die Opfer, können uns nur dann aus diesen Rollenvorstellungen befreien, wenn wir aufhören, auf diese fixiert zu sein.

Deutschland soll „aufhören, auf seine Rolle als Täter fixiert zu sein“? Dafür stehen Sie hierzulande mit einem Bein im Gefängnis.

Burg: Es geht darum, zu begreifen, daß die Lehre aus dem Holocaust sein muß, in Zukunft allen Opfern von Diskriminierung und Gewalt zu helfen. Deutsche und Israelis sollten Seite an Seite mit gutem Beispiel vorangehen, ob in Darfur, in Guantánamo, in Gaza oder wo auch immer auf der Welt.

Ex-Außenminister Joschka Fischer …

Burg: Mein herzlicher Freund!

… nannte den Holocaust den „Gründungsmythos“ der Bundesrepublik Deutschland. Ist das nicht ein Fall von Instrumentalisierung?

Burg: Nein, ich halte das für eine sehr mutige Position. Der Holocaust steht für die Entrechtung von Fremden und Andersdenkenden. Wenn die Lehre daraus ist, daß Nachkriegsdeutschland diesen Rechte zubilligt, dann ist diese Schlußfolgerung großartig! 

„Israel ist durch Gedenkpolitik zur Supermacht geworden“

Bundeskanzlerin Merkel zählt wegen des Holocaust das Existenzrecht Israels inzwischen ernstlich zur Staatsräson Deutschlands.

Burg: Ihre Kanzlerin nimmt einige äußerst interessante und couragierte Positionen ein. Das beeindruckt mich vor allem, da sie in der DDR aufgewachsen ist, die damals die Haltung vertrat, das antifaschistische Deutschland zu vertreten und deshalb mit der Schuld Hitlers nichts zu tun zu haben. Dennoch nimmt Frau Merkel die Verantwortung des vereinten Deutschland für die Schuld am Holocaust an. Das ist doch erstaunlich, ja eine bewunderswerte Haltung.

Geradezu ein Quantensprung! Dazu kommt, daß sie Vertreterin der Christdemokraten in Deutschland ist, das heißt, was sie sagt, hat also auch eine christliche Dimension – um so bewundernswerter, als der Papst sich in diesen Fragen ja eher bedeckt hält. 

Unter anderem jüdische Kritiker werfen dem Zentralrat der Juden in Deutschland eine Instrumentalisierung vor. 

Burg: Ich bin Israeli und kein deutscher Jude, ich kann dazu nichts sagen.

Etliche Deutsche beklagen hinter vorgehaltener Hand eine Instrumentalisierung des Holocaust  durch Israel, um Deutschland außenpolitisch zu gängeln. Haben sie recht?

Burg: Noch einmal: Ich kann nicht kommentieren, was die Deutschen über die Dinge denken. Auf jeden Fall ist Deutschland heute ein verläßlicher Partner Israels, und ich wünsche mir, daß wir auf dieser Basis zu einer neuen Stufe des Verhältnisses unserer beiden Nationen kommen. Gemeinsam sollten wir die Logik durchbrechen, der Holocaust gehöre uns und alle anderen Morde in der Welt sind normale Übel, aber kein Holocaust.

Woraus wir dann folgern, wir seien also auch nicht in der Verantwortung. Mit dieser Haltung versagen wir moralisch. Der Holocaust ist nichts Einmaliges, sondern findet ständig neue Opfer. Die Shoah ist inzwischen zur moralischen Erfahrung der ganzen Welt geworden und hat Israel dadurch zu einer Supermacht durch Gedenkpolitik gemacht. Vielleicht ist es an der Zeit, das nicht mehr nur zum eigenen Vorteil zu nutzen, sondern zu einer Supermacht moralischer Staatskunst zu werden. 

Avraham Burg: Der ehemalige israelische Parlamentspräsident und Ex-Vorsitzende der Jewish Agency sowie der World Zionist Organisation löste 2007 mit seinen Thesen von einer pathologischen Präsenz und politischen Instrumentalisierung des Holocaust in seiner Heimat „gewaltiges Entsetzen“ (Die Welt) aus.

Nun ist sein „provozierendes, aber überaus wichtiges“ (Deutschlandradio) Skandalbuch „Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muß“ (Campus, 2009) auch auf deutsch erschienen.

Burg, Jahrgang 1955, ist Sohn des ehemaligen israelischen Innenministers Josef Burg, war Parlamentsabgeordneter, Aspirant auf den Vorsitz der Arbeitspartei, Berater von Premierminister Schimon Peres, schließlich von 1995 bis 1999 Vorsitzender von Jewish Agency und World Zionist Organization und danach – bis 2003 – Sprecher der Knesset, des israelischen Parlaments. Im Sommer 2000 war er gar kurzzeitig provisorischer Präsident Israels. 

JF 47/09

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