Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hat die Medienkampagne offenbar überstanden – mit Blessuren zwar, aber immerhin! Zwei Gründe gaben den Ausschlag. Zum einen war der inszenierte Aufruhr, wie man in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lesen konnte, Teil eines Machtkampfes innerhalb der Bundesbank, der unentschieden blieb. Falls Bundesbankpräsident Axel Weber tatsächlich das Interview als Falle für Sarrazin gedacht hatte und es passieren ließ, um es anschließend zu skandalisieren, dann wäre sein Rücktritt fällig. Denn die Probleme, die Sarrazin angesprochen hat, sind existentiell für Deutschland. Wer aus taktischen Gründen auf die Fortdauer ihrer Tabuisierung spekuliert, der bezeugt politische, intellektuelle und menschliche Unreife für sein Amt.
Eine Rolle hat auch die relative Unentschiedenheit der überregionalen Presse gespielt. Zwar rotteten die Print-Journalisten sich mehrheitlich wie auf Kommando zur Hetzmeute zusammen, doch diesmal gab es bedeutsame Ausnahmen. Der Springer-Verlag samt Bild-Zeitung kam zu dem Schluß, daß er sich nicht zu weit von den Alltagserfahrungen seiner Leser entfernen durfte. Ähnlich die Frankfurter Allgemeine, die ihre bürgerlichen Leser nicht schon wieder vor den Kopf stoßen wollte. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten fallen Abo-Kündigungen schließlich leicht und schmerzen doppelt.
Die Sudelei des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, der Sarrazin mit Hitler, Göring und Goebbels in Zusammenhang brachte, blieb für sein Opfer diesmal folgenlos und fiel auf ihren Urheber zurück. Allerdings waren es wieder nur jüdische Vertreter, die dem Giftspritzer – begrenzt – Paroli boten. Vor allem fehlte ein deutlicher Wink der Bundesregierung, daß er in ihren Augen nicht länger satisfaktionsfähig ist und als Verhandlungspartner nicht mehr in Frage kommt. Es gibt zu denken, daß Kramer, der Machtinteressen vertritt und viel davon versteht, die Aussicht auf Diskussionsfreiheit und politische Rationalität in Deutschland für problematischer hält als den wachsenden Einfluß des Islam.
Stehen Sarrazins Interview und sein politisches Überleben am Anfang einer neuen Ausländerpolitik? Alle Anzeichen und die politischen Kräfteverhältnisse sprechen dagegen. Die Politik wird seine – unwiderlegt gebliebenen – Aussagen als Belege dafür nehmen, daß noch mehr Geld, Aufwand und Betreuung notwendig sind, um atavistische Problemgruppen in die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik zu integrieren.
Allein schon das Wort „Integration“ ist eine Zumutung! Denn erstens reduziert es die existentielle politische Frage, welche Ausländer zu uns passen, wie viele wir wollen und wie sie uns nützen, auf ein technisches Problem und neutralisiert sie dadurch. Das selbstverständliche Recht des deutschen Souveräns, eine Auswahl möglicher Zuwanderer zu treffen und entsprechende Begehren auch zurückzuweisen, wird de facto durch das Recht des Ausländers auf unbedingten Zugang ersetzt. Eine am Selbsterhalt orientierte deutsche Staatsräson existiert nicht.
Zweitens bezeichnet der Begriff sein genaues Gegenteil, denn in der Praxis ist die Desintegration der Gesellschaft im vollen Gange. Sie betrifft vor allem die Schulen, die Sozialsysteme, die öffentlichen Räume, die Strafverfolgung.
Die weltweit einmaligen Sozialtransfers haben Gewaltausbrüche wie in Frankreich bisher verhindert, so daß man von einer Art Schutzgeld sprechen kann, das der deutsche Steuerzahler Monat für Monat erbringt. Seine Empfänger haben ihr wachsendes physisches Drohpotential längst erspürt und verlangen neben der finanziellen auch symbolische, politische und gesellschaftliche Anerkennung, vulgo „Respekt“. Ihre Forderung trifft komplementär auf ein bundesdeutsches Politikverständnis, das „Integrationsverweigerung“ – auch dies ist ein Unwort – als Reaktion auf „versagte Anerkennung, Liebe und Fürsorge“ wertet und an die Stelle der Nation eine Idealgesellschaft aus indifferenten „Rechtspersonen“ setzt, die sich „gegenseitig als Träger subjektiver Rechte innerhalb eines Systems von Rechten“ achten (Jürgen Habermas). Die entscheidende politische Frage, warum solche „Rechte“ ausgerechnet in Deutschland (und Europa) geltend gemacht werden sollen, wird, wenn überhaupt, mit dem reflexhaften Hinweis auf das Dritte Reich beantwortet.
Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz spricht in seinem neuen Buch „Diskurs über die Ungleichheit“ daher von zwei Kulturkämpfen gegen die westlichen Gesellschaften: Der eine wird von den Vertretern atavistischer Kulturen, der zweite von den Linksintellektuellen geführt. Beide greifen ineinander und bedienen sich der „politischen Korrektheit“, der „Rhetorik eines besetzten Landes. Und wieder nennen sich die Besatzer Befreier.“
In diesem Fall wäre selbst Innenminister Wolfgang Schäuble, der kürzlich ganz ironiefrei sagte: „Wir machen in Deutschland seit den siebziger Jahren keine Einwanderungs-, sondern Integrationspolitik“ und der eine deutsche Schuld für „die Defizite vergangener Jahre“ konzedierte, bloß der hilflose Vollstrecker einer subalternen Staatsideologie. Und die kann sogar ein tollkühnes Sarrazin-Interview nicht so einfach zum Einsturz bringen.