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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Horizonte

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Nach zwei Einleitungstakten des Klaviers hebt eine schlichte achttaktige Gesangsweise an, die wiederholt und variiert wird und deren letzte Phrase das Klavier aufnimmt. Dann Tempowechsel: von „Langsam“ zu „Sehr Langsam“. Matthias Goerne verlängert die Generalpause vor dem neuen Auftakt weit über das Maß des neuen Tempos hinaus, das sein Begleiter Christoph Eschenbach mit einem Ritardando vorbereitet hatte, teilt damit das Lied Nr. 6 „Der Neugierige“ in zwei unverbundene Teile und markiert überdeutlich einen Wendepunkt des ganzen Schubertschen Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ op. 25 D 795.

Ab hier ist der Bach viel mehr als nur Reisegefährte des Müllers das Bächlein seiner Liebe und stumm wohl nur, weil der Müllerbursche seinen vorgezeichneten Lauf von Leben zu Tod noch nicht zu lesen vermag. Wenn er ihn wissen wird, dann erst wird der Bach reden, im vorletzten Lied in Wechsel mit dem Müllerburschen, und im letzten ihm singen sein Wiegenlied.

In diesem seinen zweiten Versuch mit dem Zyklus, der als dritte Folge seiner Edition ausgewählter Schubert-Lieder erschienen ist, riskiert Goerne viel zuviel zuwenig (Harmonia Mundi HMC 901995). Der Sänger müsse sich, heißt es im Beiheft, von seiner Rolle als neutraler Beobachter freimachen und mit dem Charakter des Reisenden identifizieren. Einem Sänger, der im Dunstkreis der deutschen Stanislawski-Rezeption vom Schlage eines Ottofritz Gaillard künstlerisch sozialisiert wurde, kann denn auch schon einmal der Charakter des Reisenden mit dem des Sängers zusammenfallen.

Entstanden im Schicksalsjahr 1823, dem Jahr der Syphilis-Diagnose und des Spitalaufenthalts – einige Lieder sind auf dem Krankenlager geschrieben –, erscheint in den Müller-Liedern die Müllersche Ironie in eine andere, böse, eine Schubertsche Ironie verwandelt. Ob die Liebe des Müllerburschen von der schönen Müllerin erhört wird oder nicht oder gar von seinem Widerpart, dem Jäger – auf den Tod läuft es seit 1823 noch allemal hinaus. Der ernsten Charade des Liederspiels vermag Goerne kaum beizukommen, nicht mit illustrativem Geschick, das ihm allzuoft in Ungeschick umschlägt, nicht mit extremen Tempi, nicht mit abgedunkelten, gedrückten Tönen, die sich anhören wie das Blöken der Lämmer im Traume. Dabei kann er seine Stimme auch hell und leicht führen, ohne daß darum die Töne flach und lasch klingen müßten.

Goernes beschränkter Konzeption scheint Christoph Eschenbach nicht bedingungslos folgen zu wollen, fast scheint es, als hätte sich einmal der Sänger, ein andermal der Begleiter durchgesetzt, in letzterem Fall mit interpretatorischem Gewinn. Das schafft Momente wie die rezitativischen Schlußtakte von Nr. 5, „Am Feierabend“, wie die im Vergleich zur ersten Einspielung von 2002 in den Tempi gestrafften, in ihrem Gehalt vertieften letzten Lieder des Zyklus und wie ebenjene Generalpause und die sehr langsame Gesanglinie danach in Nr. 6: Momente, da hinter dem Horizont des Goerneschen Müllerburschen doch noch der Werkhorizont hörbar wird.

Mit dem begleitenden Text im Beiheft von Christophe Ghristi allerdings ist die Schubert-Rezeption wieder dort angekommen, von wo sie vor gut hundert Jahren einmal aufgebrochen war, bei Bartschs „Schwammerl“ und Bertés „Dreimäderlhaus“.

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