Herr Mertes, der Wechsel zu Schwarz-Gelb ist geglückt. Aber können sich Konservative wirklich über den Wahlausgang freuen?
Mertes: Auf jeden Fall, denn die Verwässerung der politischen Richtungen in der Großen Koalition – obendrein mit dem Effekt der Linksdrift der Regierungspolitik – ist jetzt zunächst einmal zugunsten einer politischen Neubesinnung gestoppt. Was wir nun erleben, ist eine „Clearing“-Situation, wie die Politikwissenschaft das nennt: Es gibt nunmehr zwei Lager, Konturen und Grundrichtungen werden wieder sichtbar, treten miteinander in Konkurrenz.
Das dient der Klarheit der politischen Kultur und damit auch der Vitalisierung konservativ-liberaler Momente. Wir haben also eine Lage, die es auch den Konservativen ermöglicht, sich wieder mehr ins Spiel zu bringen.
Wo sehen Sie denn solche Ansätze?
Mertes: Das ist es, was ich meine: Die Chancen für solche Ansätze und Antriebe sind da. Die gute Nachricht des Wahlabends ist nicht, die Probleme der sich vernachlässigt oder gar parteipolitisch heimatlos fühlenden Konservativen sind gelöst, sondern daß nun die Chance besteht, sich neu einzubringen.
Nicht mehr, aber auch keinesfalls weniger. Da müssen die Konservativen aber aus den oft resignativen Verharrensmustern heraus, sich auch inhaltlich „neu aufstellen“, wenn nicht sogar definieren. Die Ausgangssituation dafür ist da, die Wende aber muß mindestens so lange erkämpft werden, wie die große Kleister-Koalition dauerte.
„Wo sind denn die großen konservativen Lösungen?“
Im Ernst, welche Chancen bitte haben Konservative in der Merkel-CDU?
Mertes: Ich weiß, was Sie meinen: Sie wünschen sich eine CDU-Parteichefin, die im Geradeausritt die Fahne voranträgt und Werte und Prinzipien ins Land und durch die gegnerischen Heerscharen trägt. Es stimmt, das ist Angela Merkels Sache und politische Wesensart nicht.
Sie müssen sich damit abfinden: An der Spitze der Union steht keine konservative Jeanne d‘Arc. Andererseits: Angela Merkel ist auch keine Bewußtseinsdiktatorin, sondern eine begabte Technikerin der Macht, die Strömungen weniger erzeugt als aufnimmt und sich der Lage anpaßt. Das eröffnet allen Strömungen in der Partei den Spielraum, Einfluß zu nehmen, wenn denn gesellschaftliche Relevanz dahintersteht. Und eben die muß erfochten werden.
Zum Beispiel?
Mertes: Nehmen Sie etwa das Beispiel des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. Von konservativer Seite kommt dazu nur ein Hin- und Herschwanken zwischen dem Ressentiment gegenüber den USA – Motto „Die haben uns da reingeritten!“ – und dem konservativen Traditionsethos, daß man als Nation und Armee, die ernstgenommen werden wollen, sozusagen auch im Felde seinen Mann zu stehen hat.
Eine eigenständige, entschlossene, überzeugende und zukunftsweisende konservative Position, wie und wo hier die deutschen Interessen zu gewichten sind, habe ich aber auch von dieser Seite noch nie gehört. Das gleiche gilt auch für andere Raisonfragen der deutschen Politik, etwa für die notwendige Neudefinition der Sozialen Marktwirtschaft.
Vorschläge von konservativer Seite gibt es schon, nur hat man nicht den Eindruck, als ob man in der Union auf diese Wert legt.
Mertes: Mit Verlaub, das klingt für mich, als ob Sie aus einer Vergrätzung sprechen. So aber formuliert man keine Position, die Gestaltungskraft entwickeln soll. Man muß schon bereit sein, zu differenzieren: Nehmen Sie etwa die Familienpolitik.
Zwar stimmt es, daß sie weite Teile christlich-konservativer Werteanhänger nicht glücklich macht, aber man sollte auf der anderen Seite auch nicht leugnen, daß sie auf der Anerkennung von Kindern und Familie als dem Zukunftspotential der Gesellschaft fußt, also von konservativen Wertbildern auch unter emanzipatorischem Wandel ausgeht.>>
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Das ist aber nicht der springende Punkt.
Mertes: Der springende Punkt ist, wenn bei den Konservativen statt dem Willen, den Neubeginn vom Wahlsonntag zu nutzen, nur der Ärger über die politischen Enttäuschungen der Vergangenheit vorherrscht, dann brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn auch in Zukunft der Einfluß stagniert oder von offensiveren Geistern bedrängt wird.
Deshalb sehen Sie mich in diesem politischen Herbst 2009 als einen aufgeräumten Konservativen, der sich freut auf die Schlachten von morgen, die nach vier Jahren Kompromißlerei und Scheinfrieden der Großen Koalition endlich wieder geschlagen werden können! Der Kampf um Köpfe, der immer dem Kampf um Wählerstimmen vorangeht, ist entfacht. Denn endlich wird es wieder Lager geben, die existentielle Richtungsfragen wieder klar hervortreten lassen.
Es ist allerdings auch nicht überzeugend, die Schuld nur bei den Konservativen zu sehen.
Mertes: Das stimmt, und so ist es auch nicht. Was etwa die politischen Milieus angeht, so ist das der Konservativen inzwischen weitgehend liberalisiert. In der Union redet man nicht umsonst bevorzugt von den „urbanen Milieus“. Und – auch wenn das immer noch keiner glauben will – es ist mittlerweile nicht zuletzt die CSU in Bayern, die sich an die Spitze dieser Liberalisierung zu setzen versucht.
Ihre Funktion konservativer Wertbeständigkeit mit Wirkung in die ganze deutsche Politik hinein hat die Partei zugunsten mancher opportunistischer Beliebigkeit aufgegeben, zumal Horst Seehofers politische Lebensdevise schon fast sozialdemokratischer ist als die Sozialdemokratie selbst. Und es ist schon bezeichnend, wenn sich die CSU völlig ungeniert ausgerechnet kurz vor der Wahl etwa mit der Homoehe arrangiert. Von der konservativen Strahlkraft Bayerns, die in den vergangenen Jahrzehnten wichtig war für das politische Klima in ganz Deutschland, ist für meine Begriffe nicht mehr viel übrig.
„Es ist dieser Opportunismus, der das Glaubwürdigkeitsproblem schafft”
Ist das der Grund für das besonders schlechte Abschneiden der CSU am Sonntag?
Mertes: Da kommt einiges zusammen. So leidet sicher auch die CSU an dem Problem des Auseinanderdriftens der politischen Milieus zwischen Großstadt und ländlichem Raum, der nachlassenden Bindewirkung korporativer gesellschaftlicher Strukturen zwischen Kirche, Kolping und Gesangverein. So ist liberalisierende Modernisierung sicher angebracht, aber die Partei vollzieht diese nicht mit der Souveränität dessen, der auf den gesellschaftlichen Wandel aktualisierte, schlüssige Antworten gibt und nicht mit dem bloßen Abstreifen seiner bis dato propagierten Werte reagiert.
Es ist dieser Opportunismus, der das Glaubwürdigkeitsproblem in der Stammwählerschaft der CSU schafft, das am Wahltag sichtbar wurde. Das ist ein Verlust an Pluralität für ganz Deutschland; denn von der CSU wurde in ihrer großen Zeit immer wieder, auch gegen den Zeitgeist und geradezu doktrinär, politisch die alternativ-konservative Richtung aufgezeigt.
Dazu kommt Horst Seehofers Doktrin, nach der aus einer Politik gegen die Transfergesellschaft eine Machteinbuße folgt. Doch auch wenn diesem Kalkül in der Sache kaum widersprochen werden kann, so schimmert aber auch hier Anpassung durch. So werden von der Seite des CSU-Vorsitzenden in der neuen sogenannten bürgerlichen Koalition kaum Impulse einer konservativ-liberalen Renaissance ausgehen.
Nun regiert die Union mit ihrem Wunschpartner. Womit ist jetzt zu rechnen?
Mertes: Man muß sehen, daß Angela Merkel im Wahlkampf weithin vermieden hat, konkrete politische Festlegungen zu machen, die jetzt eingeklagt werden könnten. So hat sie politische Spielräume. Zweifellos aber wird künftig der Blickwinkel verlagert werden: Die einfache Wahrheit, daß nicht verteilt werden kann, was nicht zuvor erwirtschaftet wurde, wird – hoffentlich – wieder Vorfahrt bekommen.
Und dieser Grundsatz wird an den politischen Taten verifizierbar sein müssen, und zwar erfolgreich. Sonst gibt es mächtig Gegenwind nicht nur durch eine sich rot-rot formierende vehemente Opposition, sondern auch im eigenen Lager.
Man hatte 2005 nicht den Eindruck, daß Angela Merkel nur unter dem Druck der SPD von den Beschlüssen des Leipziger Parteitags abgerückt ist, vielmehr daß ihr die Große Koalition als Argument gerade recht kam. >>
Mertes: Dem ist schwer zu widersprechen.
Warum sollte Sie also nun aus eigenem Antrieb Leipzig wiederentdecken?
Mertes: Weil sie die ist, die sie ist, und die Machtkonstellation, Politik zu machen, eine andere. Wobei die Sozialisation durch die Große Koalition sicher nicht auszuradieren ist, das hat sie ja auch deutlich bekannt.
Also nicht aus Überzeugung?
Mertes: Entscheidend ist, daß sie, wenn auch ohne Hauruck, aber ebenso nachhaltig, wie sie 2005 von den Leipziger Beschlüssen abgerückt ist, jetzt den Richtungswechsel einleitet. Denn die Große Koalition hat Deutschland in der Modernisierung weit mehr als vier Jahre zurückgeworfen – ja, man muß fast sagen, beinahe wieder tief in das Denken der achtziger Jahre zurückgeführt!
Zu glauben, daß die Drift nach Links, die wir im ersten Kabinett Merkel erlebt haben, nun abrupt beendet wird, wäre naiv. Aber Schwarz-Gelb wird sich nicht davonmogeln können. Dafür ist die Opposition und die Medienaufmerksamkeit zu stark. Dazu kommt, daß im Mai schon die Wahl in NRW ansteht. Die Koalition muß sich ergo rasch bewähren und Zeichen setzen.
Was wird sie also konkret tun?
Mertes: Entgegen den Vermutungen mancher, daß nach der Wahl die Politik tief in die Taschen der Bürger greifen wird, glaube ich, daß die sogenannten Grausamkeiten zumindest in den ersten zwei Jahren nicht so schlimm ausfallen werden. Gleichzeitig wird man noch einmal kräftig in die Wirtschaft investieren, um sie anzukurbeln.
Dafür bliebe dann nur neue Verschuldung?
Mertes: So ist es. Aber es kommt darauf an, daß die Neuverschuldung eine Wachstumsverschuldung und nicht die übliche Verteilungsverschuldung ist. Denn Wachstumsverschuldung bietet die berechtigte Aussicht auf Entwicklung der Wirtschaftskräfte.
„Schrille Begleitmusik der Opposition”
In der Theorie.
Mertes: Sicher, das ist eine wirtschaftspolitische Partitur, die in praxi verifizierbar ist – unter womöglich schriller Begleitmusik der Opposition.
Wo endet diese Schuldenpolitik eines Tages?
Mertes: Das ist die Sorge, die alle umtreibt. Aber was ist aktuell die Alternative? Die Koalition ist verdammt zum Erfolg, denn sonst droht sich die Enttäuschung der Wähler, die jetzt vor allem gegen die SPD gerichtet war, in vier Jahren gegen die Regierung zu wenden. Und das hat die Kanzlerin im Blick.
Wer wird in vier Jahren der Herausforderer der Koalition sein?
Mertes: In Zukunft wird man nicht mehr von Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün sprechen, dieses Projekt ist für mich Geschichte. Schon in vier Jahren sieht sich die Koalition der Konstellation Rot-Rot gegenüber. Die Grünen werden da nicht zwangsläufig mitgehen. Sie werden sich bestenfalls vielmehr zum Zünglein an der Waage entwickeln, längst haben sie ja auch ihre Fühler zum konservativ-liberalen Lager ausgestreckt.
Also ist Schwarz-Gelb vielleicht nur die Ouvertüre vor dem rot-roten Orchestereinsatz?
Mertes: Das ist eine realistische Möglichkeit, und ich halte es für gut möglich, daß es nicht ein drittes Mal eine Kanzlerkandidatin Angela Merkel geben wird. Und auf den Kandidaten des neuen linken Bündnisses darf man gespannt sein. Und wir könnten vier Jahre erleben, die so konfrontativ sein werden, daß sich mancher nach dem Frieden des Dornröschenschlafs der Großen Koalition zurücksehnen wird. >>
Erobert die Linkspartei jetzt nicht nur den Westen der Republik, sondern auch die SPD?
Mertes: Das ist zweifellos schon im Gange, die SPD kann sich dem auch kaum entziehen, weil es sie sonst zerreißt. So wie die Grünen einen Einfluß auf die SPD ausgeübt haben – so war die SPD vor dem Aufkommen der Grünen für die Kernkraft –, so werden von nun an vor allem die Linken die SPD beeinflussen.
Das heißt, die neue SPD wird womöglich sogar industriepolitischer werden, und das wird sie auch wieder weiter von den Grünen trennen, bei denen im Zweifel ökologisch vor sozial rangiert. Frank-Walter Steinmeier wird der SPD auf parlamentarischer Ebene als Oppositionschef im Bundestag ein seriöses Gesicht geben.
Dahinter aber, auf der Parteiebene, wird sich ein enormer Wandel vollziehen. Schon auf dem nächsten Parteitag im November in Dresden werden alle jene in den Vorstand des Präsidiums gelangen, die dafür sind, die „Selbstblockade“, wie es heißt, für ein Bündnis mit der Linken zu beseitigen. Unter dem Einfluß der Niederlage vom Sonntag soll es jetzt ja schon in Thüringen ein weiteres rot-rotes Bündnis geben, und es ist sehr die Frage, ob nicht auch auf die Partei in Brandenburg der Druck steigt, lieber mit der Linken statt mit der CDU zu koalieren.
Dann kommt der Gewöhnungsprozeß und 2013 die große rot-rote Herausforderung für das bürgerliche Lager. Die Prognose wage ich deshalb: Der nächste Wahlkampf wird spannender als der vergangene, und die Wahlbeteiligung wird in die Höhe schnellen.
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Der Wirtschafts- und Politikjournalist Heinz Klaus Mertes (Manager Magazin, Welt am Sonntag) leitete ab 1986 die Nachrichtenredaktion des Bayerischen Rundfunks, ab 1988 der ARD. Dort entwickelte er das „ARD-Mittagsmagazin“, wurde 1990 Chefredakteur des BR-Fernsehens, wechselte 1993 als Programmdirektor zu Sat. 1 und bekleidete zuletzt den gleichen Posten beim Berliner Fernsehsender FAB.
Bundesweite Bekanntheit erlangte er ab 1988, als er zunächst das ARD-Magazin „Report München“ moderierte, später verantwortete er zahlreiche weitere aktuelle politische Programme („Plusminus“, „Im Kreuzfeuer“, „Zur Sache, Kanzler“). Heute ist er als Geschäftsführer seiner beiden Medienunternehmen M Com TV und Forte TV in München und Berlin tätig. Geboren wurde er 1942 in Prüm in der Eifel.
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