Leiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan. Wozu genau braucht der Papst eigentlich einen Radiosender?
Gemmingen: Streng genommen braucht er ihn nicht. Jahrhundertelang ging es in der Kirche auch ohne Radio. Aber da es nun mal diese Rundfunktechnik gibt, mit der man über den Äther Millionen Menschen erreichen kann – warum soll man dieses Medium also nicht für die Frohbotschaft Christi und die Kommunikation in der Weltkirchen-Familie nutzen?
Warum gibt es kein "TV Vatikan"?
Gemmingen: Aus verschiedenen Gründen: Man müßte das Programm dann in mindestens zehn Sprachen ausstrahlen. Das wäre unbezahlbar teuer. Radio macht der Vatikan in rund 40 Sprachen regelmäßig, in zehn weiteren unregelmäßig. Es kommt dazu, daß die verschiedenen Völker und Länder sehr gegensätzliche Wünsche an ein solches Programm hätten. Schon die italienische Form, Fernsehen zu machen, ist von der deutschen sehr verschieden. Wie unterschiedlich müßte das Programm erst sein für Asien, Afrika, Amerika! Nur die Ausstrahlung von Veranstaltungen mit dem Papst wäre für alle mehr oder weniger gleich. Diese aber gibt es nicht jeden Tag und rund um die Uhr. Daher hat der Vatikan nur ein kleines Fernsehzentrum, an das sich Fernsehstationen aus aller Welt wenden, wenn sie Live-Sendungen oder Dokumentationen aus dem Vatikan übertragen wollen.
Heute hat die Reichweite der elektronischen Medien die Reichweite der Kirche längst überflügelt. Welche Konsequenzen zieht die Kirche?
Gemmingen: Sie nutzt das Netz der Pfarrgemeinden und – wie eben gesagt – auch die Medien, vor allem Printmedien und regionale Radiostationen. Pfarreien und Medien haben unterschiedliche Möglichkeiten: In der Pfarrei spielt es ja eine große Rolle, daß man sich mit anderen Gläubigen trifft, im Idealfall als Gemeinde zusammenwächst, daß man einen Pfarrer hört, der hoffentlich ein lebendiges Zeugnis des Glaubens gibt, und daß man die Sakramente empfängt. All das ist über die elektronischen Medien nicht möglich. Medien vereinzeln die Menschen eher, auch wenn die Medienkonsumenten meinen, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Medien sind ein gutes Zusatzgerät, aber ersetzen nicht den direkten Kontakt zu anderen Gläubigen, zum Gemeindepfarrer und zu Jesus Christus in den Sakramenten.
Sie sind bereits seit 1980 für die katholische Kirche in der Medienarbeit tätig.
Gemmingen: Die katholische Kirche möchte die Medien vor allem als Mittel zur Verkündigung der frohen Botschaft nutzen. Dabei setzt sie weltweit bisher wohl vor allem auf Printmedien und hat sogar sehr viele Zeitschriften. Außerhalb Europas setzt sie wohl auch stark auf das Radio. Neben diesem Verkündigungsauftrag nutzt die Kirche die Medien aber auch, um den Bürgern politische, gesellschaftliche und weltanschauliche Orientierung zu geben. Die Christen sollen sich in ihrem staatsbürgerlichen Tun nach Maßstäben des Evangeliums verhalten können. Dazu brauchen sie Hilfe und Orientierung. Schließlich nutzt die Kirche die Medien auch, um den inneren Zusammenhalt der Weltkirche zu fördern. Eine über den ganzen Globus verbreitete Gemeinschaft braucht ja auch Mittel, um zusammenzuhalten. Wenn eine Gemeinschaft keine gute innere Kommunikation pflegt, zerfällt sie.
Sie haben 2005 das erste Interview mit einem Papst in der Geschichte der katholischen Kirche geführt, und 2006 haben Sie zusammen mit drei Kollegen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens die Interviewpremiere Benedikts XVI. im deutschen Fernsehen moderiert.
Gemmingen: Das Gespräch im deutschen Fernsehen war für meinen Geschmack etwas zu steif geraten. Was nicht die Schuld des Papstes war, sondern an der Organisation lag. Die Regie hatte festgelegt, daß wir Interviewer dem Papst vorher nicht die Hand geben sollten, was den Papst wohl auch irritierte. Er machte die Andeutung, wie beim Examen zu sein. Ich will damit sagen, er hat sich wohl etwas eingeengt gefühlt. Diese Atmosphäre hat leider das Gespräch steif gemacht. Es wäre auch lockerer gegangen. Der Papst hat zwar perfekt geantwortet, aber eher wie ein Einser-Schüler, der seine Antworten tipptopp vorbringt. Der Gesprächscharakter blieb dabei auf der Strecke.
Warum hat sich Benedikt XVI. entschieden, überhaupt Presseinterviews zu geben? Selbst Johannes Paul II., der sozusagen das "Medien-Papsttum" erfunden hat, hat das nicht getan.
Gemmingen: Warum sollte Benedikt es nicht machen? Auf diese Wiese kann er die Menschen direkt ansprechen. Schließlich weiß er, daß er so in Millionen Wohnzimmer kommt. Er hatte ja auch als Kardinal zwei Interviewbücher gemacht und wußte daher, daß die Gesprächsform Aussagen ermöglicht, die sonst eher schwer sind. Auf der anderen Seite ist dies schon ein historischer Schritt. Es ist einfach unvorstellbar, daß etwa ein Pius XII. ein Interview geben hätte. Aber schon Johannes Paul II. war in vielem sehr umstürzlerisch, und da stellt sich die Frage, warum er, der etwa auf Reisen stets bereit war, sich im Flugzeug den Fragen der Journalisten zu stellen, warum also er nie ein normales Interview gegeben hat. Möglicherweise haben ihm seine Berater abgeraten.
Johannes Paul der "Reisepapst", Benedikt der "Fernsehpapst"?
Gemmingen: Wer weiß? Auf jeden Fall hat Benedikt XVI. einen ganz neuen Weg der Kommunikation mit den Menschen eingeschlagen.
Papst Benedikt XVI. gilt als Popstar, sogar die "Bravo" legt ihren Heften Poster von ihm bei.
Gemmingen: Irgendwann werden wir uns auch an den "neuen deutschen Papst" gewöhnt haben. Dann wird die Begeisterung auf ein normales Maß zurückgehen. Und es wird sich zeigen, was wirklich innere Anteilnahme an seiner Person und was nur oberflächliches Mode-Geplätscher war. Aber ich glaube, es stimmt: Die deutsche Jugend versteht heute zunehmend, daß der Papst und das, was er repräsentiert, keine "Spaßbremse" ist, sondern daß es doch letztlich wichtig ist für ein menschliches, ein wertvolles und würdiges Leben.
Sie sprechen von einer Rückkehr der Werte?
Gemmingen: Ja! Ich meine, in der Tat einen kleinen Stimmungs- und Paradigmenwechsel erkennen zu können. Deutschland zieht nach: Während in den meisten anderen Ländern der Welt Papst Johannes Paul II. wegen seines unbeirrten Festhaltens an übermodernen Werten als einer der wenigen anständigen Menschen im internationalen Gefüge betrachtet wurde, wurde in Deutschland über Jahrzehnte an ihm fast nur herumgenörgelt. Nun wächst die deutsche Gesellschaft aber aus der Prägung durch die Achtundsechziger heraus. Es deutet einiges darauf hin, daß wir an einer Epochenwende stehen.
Papst Johannes Paul II. hat zuletzt immer bitterere Kritik an den Werten des Westens geübt. Was tut die katholische Kirche heute, um den Wertewandel zu befördern?
Gemmingen: Nun, wann immer ein Pfarrer gut predigt, ist das auch ein Appell für eine Rückkehr zu christlichen Werten. In jedem Moment, in dem eine Krankenschwester sich in christlichem Geist über einen Kranken beugt, manifestiert sich die Präsenz dieser Werte. Dazu kommen natürlich auch viele gute Denkanstöße von herausragenden Persönlichkeiten. Nur ist das Fernsehen leider so dumm, diese Persönlichkeiten nicht öfter zu Wort kommen zu lassen. Ich finde unsere Fernsehprogramme sehr, sehr mager. Ich meine, die dafür Verantwortlichen dürfen nicht nur auf die Einschaltquote schauen, sondern sie sollten ihre gesellschaftliche Verantwortung für die Zukunft des Landes besser wahrnehmen. Ohne Ethik geht das Land zugrunde.
In besagtem Fernsehinterview gab sich Papst Benedikt XVI. betont nachdenklich, versöhnlich und zurückhaltend. Kein Vergleich mit der offensiven Art Johannes Pauls II.
Gemmingen: Johannes Paul II. war in der Tat eher ein charismatischer Prophet, ein Moses, der voranstürmt und dadurch auch viele Leute außerhalb der Kirche angesprochen hat. Im Gegensatz dazu ist Benedikt XVI. der nachdenkliche Theologe. Er wirkt auch viel weniger optimistisch als sein Vorgänger, da er weiß, daß man die Welt nicht mit Papstreisen und -reden auf den Kopf stellen kann, sondern daß dies seine Zeit braucht. Jemand hat mal gesagt: Johannes Paul II. war ein Papst zum Schauen, Benedikt ist ein Papst zum Hören. Da ist was dran.
Benedikt XVI. sprach Ihnen gegenüber von der "Kälte (des Westens) Gott gegenüber" – in aller Seelenruhe.
Gemmingen: Ich bin sicher, er leidet unter dieser Feststellung. Aber als Christen wissen wir, daß Gott die Geschichte in der Hand hat. Wir Menschen können nur das Unsere tun. Wir dürfen an Wunder glauben, aber wir können sie nicht wirken. Wir sind auch keine Meinungsbildungsagentur. Die Kirche kann und muß Christus verkünden. Sie muß es Gott überlassen, was dann aufgeht. Höchstens muß sie sich immer wieder fragen, was sie möglicherweise falsch gemacht hat.
Sie haben den Papst darauf angesprochen, daß er beim Familienkongreß in Valencia im Juli 2006 darauf verzichtet hat, das Thema Abtreibung zu erwähnen. Aber auch auf Ihre Frage hin hat er lieber vom christlichen Familienbild als von der Realität der Abtreibung gesprochen. Kann ein Papst sich das angesichts der europäischen Abtreibungsgesellschaften leisten?
Gemmingen: Wir alle wissen doch, daß päpstliche Appelle gegen die Abtreibung weitgehend wirkungslos verhallen. Die Abtreibung öffentlich zu geißeln, ist in Europa leider ein stumpfes Schwert, denn es hört keiner mehr hin. Da ist es vielleicht in der Tat schlauer, das Problem positiv, das heißt über ein Werben für eine Rückkehr zur Familien anzugehen.
In puncto Abtreibung leise Töne anzuschlagen, ist keine neue Strategie und darf angesichts von vermutlich bis heute acht Millionen Abtreibungen allein in Deutschland wohl als gescheitert gelten.
Gemmingen: Vielleicht sollte der Papst herausstreichen, daß die abtreibenden Frauen eher die Unschuldigen sind. Die eigentlich Schuldigen sind doch häufig die Väter der Kinder oder die ganze Familie oder die Freundinnen und Freunde der Frau. Sie raten oft zu diesem Schritt oder drängen gar. "Du bist doch doof, wenn du das Kind nicht wegmachst." Das wird viel zu wenig betont!
Angesprochen von einem Ihrer Interviewer-Kollegen auf die Verhütung machte der Papst fast beiläufig eine – in Hinblick auf die Frage seiner Konsequenz – ganz außerordentliche Bemerkung: Zunächst kritisiert er die Beschränkung auf technische Mittel, nämlich "wie man Verhütungsmittel anwendet". Um dann zu ergänzen: "Wir brauchen zwei Dimensionen, es muß die Bildung des Herzens mit dazukommen." Offenbar betrachtet das Oberhaupt der katholischen Kirche also – entgegen der bisherigen Lehre – Verhütung als legitimes Mittel.
Gemmingen: Nein, was er meinte, ist: Die "Bildung des Herzens" sollte die "technischen Mittel" ersetzen.
Warum sagte er dann "mit dazukommen"? Man fragt sich: Relativiert er lieber die eigene Position, als jemandem weh zu tun?
Gemmingen: Ich denke, er wollte sagen: Wenn die Herzen der Menschen gebildet sind, wenn Liebe zu Kindern wächst und der Respekt vor dem Leben – auch dem ungeborenen -, dann braucht man gar nicht mehr über Verhütung nachzudenken. Und vor allem gilt: Geburtenplanung ist nach der katholischen Kirche nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Eltern sollen nicht so viele Kinder wie möglich bekommen, sondern sie sollen ihre Kinder in freier Verantwortung bekommen. Jedes Kind soll Raum haben und geliebt werden.
Stellung bezieht in Detuschland auch Bischof Mixa. Wie denkt der Papst wohl über dessen Kritik: In Deutschland betreibe die christdemokratische Partei Familienpolitik nach dem Muster sozialistischer Ideologie?
Gemmingen: Bischof Mixa hat sich ja in der Zwischenzeit erklärt. Von "Gebärmaschinen" hätte er vielleicht lieber nicht sprechen sollen. Aber dieses Unwort hat dann doch eine gute Diskussion und Klärung gebracht. Vielleicht hätte Mixa gleich sagen sollen: "Mehr Krippenplätze ja, aber bitte nicht indirekt Mütter diskriminieren und benachteiligen, die sich selbst ganz ihren Kindern widmen."
Sie kennen Joseph Ratzinger seit 1979, als Sie in Tübingen studiert haben. Sie haben mit ihm seit 1982 zusammengearbeitet. Hat er sich auf seinem Weg vom Kardinal zum Papst verändert?
Gemmingen: Nein, verändert haben sich mit dem Amtswechsel seine Aufgaben. Als Präfekt der Glaubenskongregation mußte er Wächter sein, mußte schauen, wo in Welt und Kirche etwas nicht ganz richtig läuft. Als Papst muß er wegweisen, trösten, ermutigen, lehren, muß Vater sein. Wenn man schon ein Bild will: Vorher war er Wachhund, jetzt ist er Hirte. Aber man darf auch sagen: Er hat einfach gelernt, wie er sich als Papst gegenüber den Massen verhalten muß. Ein Zeichen, daß auch 80jährige noch lernfähig sind.
Begeistert wird bei uns gern die deutsche Herkunft Benedikts XVI. betont. Kritiker wenden dagegen ein, nach 25 Jahren im Vatikan und 55 Jahren in der katholischen Kirche sei Joseph Ratzinger mehr katholischer Universalist als Deutscher. Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Gemmingen: Auch als Papst bleibt er ein Mensch, ein Deutscher und ein Bayer! Natürlich ist er aber als Theologe gleichzeitig geprägt von der Geistes- und Kirchengeschichte wie auch von den Fragen der Gegenwart. Ich würde sagen: Seine Herkunft ist deutsch, sein Denken ist auch geprägt von den besten deutschen Denkern, aber er denkt katholisch, weltweit. Die Färbung wird anders, aber die Substanz ist die gleiche.
Pater Gemmingen: Geboren 1936 auf dem Wasserschloß von Bad Rappenau, entstammt er dem Geschlecht der Freiherren von Gemmingen. Nach dem Abitur trat er in den Jesuitenorden ein und absolvierte ein dreijähriges Philosophiestudium, bevor er in München, Innsbruck und Tübingen Katholische Theologe studierte. Seit 1982 leitet er die deutsche Abteilung von Radio Vatikan. Das wurde bei seiner Gründung dem Jesuitenorden anvertraut und untersteht dem päpstlichen Staatssekretariat. Neben der Bundesrepublik gehören zum Zielgebiet der fünfköpfigen deutschsprachigen Redaktion auch Österreich, die Schweiz, Südtirol, Elsaß, Ostbelgien, die Niederlande und Schlesien.
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