Das große bundesrepublikanische Generationen-Epos „Die Apo und die 68er“ hat eine groteske, beinahe kafkaeske neue Pointe. Mit dem Schuß des Stasi-Agenten Kurras nahm eine Geschichte ihren Anfang, die die Bundesrepublik auf einen abschüssigen Weg nach links führte und nachhaltig veränderte. Nun steht gerade dieser Anfang in einem neuen grellen Licht. Denn Kurras stand im Dienst der „Abteilung IV“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die Agenten führte, aber auch für „unfeine Dinge“ zuständig gewesen sein soll.
Der „2. Juni“ wurde zum Gründungsdatum für jene ausufernde Protestbewegung, die „die 68er“ hervorbrachte, in Randbereichen in mörderische Gewalt ausartete, aber auch der in der Opposition stehenden SPD eine Viertelmillion Neumitglieder bescherte – eine der Ursachen für ihren Wahlsieg 1969. Die Protestbewegung wuchs sich zu einem bis dahin nicht gekannten Bündel von Bürgerbewegungen aus, aus denen später die Partei der Grünen hervorging.
Bis hin zur Friedens-, Frauen- und Anti-Atomkraft-Bewegung manifestierten sich jene zahlreichen Spielarten von „Linkssein“, denen Millionen Menschen zwischen Aachen und Berlin damals anhingen. Von aktiven Minderheiten unter den 68ern und ihren Erben wurden abstruse Gedankengebäude vertreten. Das meiste davon lief sich tot, wurde von der Geschichte überholt.
Doch ein fatales politisches Erbe dieser Bewegung – neben ihren personellen Hinterlassenschaften auf diversen „MinisterInnensesseln“ – ist geblieben: das Abgleiten politischer und gesellschaftlicher Werte nach links und kultureller Standards nach unten. Insofern ist es wie eine grandiose Ironie des Zufalls, daß die Stasi-Tätigkeit und die realsozialistisch-kommunistische Gesinnung von Karl-Heinz Kurras ausgerechnet am Vorabend des 60. Geburtstags der Bundesrepublik ans Licht kam.
Was bleibt, sind viele offene Fragen. War die Stasi am Todesschuß ihres Agenten auf Benno Ohnesorg beteiligt? Gab Erich Mielke seinem Mitarbeiter Kurras den Schießbefehl?
Die beiden Historiker, die in der Birthler-Behörde die brisante Akte fanden, konnten einen solchen Auftrag darin jedoch nicht entdecken. Sollte es also vielleicht doch ein Zufall sein, daß ausgerechnet ein DDR-Agent im WestBerliner Polizeizivil, ein Waffennarr und Meisterschütze „aus Versehen“ einen jungen Linken erschoß und dadurch zur Eskalation der politischen Situation im Westen beitrug?
Andererseits, so die Historiker, waren „die gefundenen Aktenbestände über die inoffizielle Tätigkeit für das MfS von Kurras im wesentlichen vollständig, nur für Mai/Juni 1967 sind sie deutlich ausgedünnt. Besonders die Unterlagen um die Ohnesorg-Vorgänge im Juni 1967 fehlen vollständig.“
Ein Experte: „Die Stasi-Bürokratie hat die offenkundig problematischen ‘Innereien’ der Akte entfernt.“ Der SED-Forscher Jochen Staadt von der Freien Universität Berlin: „Es ist durchaus vorstellbar, daß die Stasi Herrn Kurras nahegelegt hat, die Situation für die West-Berliner Polizei ein wenig zu verschärfen und unangenehm zu machen. Das war ja auch in ihrem Interesse.“ Tatsächlich war es damals das Ziel der SED-Spitze, West-Berlin vom Bundesgebiet zu lösen und als eine „Selbständige Politische Einheit“ zu isolieren.
Im Kalten Krieg und im Dünkel, der Sieg des Sozialismus sei mit allen, auch kriminellen Mitteln zu gewinnen, hatte das MfS bereits Routine in verdeckten Operationen gesammelt. Frei nach dem ideologischen Übervater der DDR, Karl Marx, der den Philosophen vorgehalten hatte, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern, wurden der Sowjetgeheimdienst KGB und die Staatssicherheit der DDR besonders skrupellos über die Grenze zwischen politischen und kriminellen Aktivitäten geführt.
Sie sammelten nicht nur Informationen, sondern versuchten auch, durch „aktive Maßnahmen“ den Gang der Weltereignisse zu beeinflussen. Gewalttätige „Sonderaktionen“, Morde und Entführungen, die Manipulation der Medien, Desinformationskampagnen, das Kompromittieren von störenden Personen, Parteien, Staaten, Ideen und einzelnen Worten gehörten dazu. Auch die rechte, noch mehr die rechtsextremistische Szene bot ein breites Betätigungsfeld.
Aus den Akten der Stasi weiß man ziemlich genau, wie, warum und wann „Naziterror“, „faschistische Provokationen“ oder „braune Bewegungen“ aufzudecken oder gegebenenfalls herzustellen waren. Selbst bei den Hakenkreuzschmierereien zum Jahreswechsel 1959/60, die die Bundesrepublik als „braun in braun“ präsentierten und die auf das Ausland wie auf führende deutsche Politiker verstörend wirkten, führten Stasi und KGB den Pinsel.
Doch damals schob man die Untaten „den Rechten“ in die Schuhe. Erst viele Jahre später packte ein hochrangiger Überläufer aus.
In der Tatsache, daß – bisher – kein Dokument aufgefunden worden ist, aus dem ein Tötungsauftrag an einen Agenten wie Kurras hervorgeht, sollte man also noch keinen eindeutigen Beweis sehen, daß die „schwere Faust der Arbeiterklasse“ nicht auch in diesem Fall zugeschlagen hat.