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Marc Jongen, ESN Fraktion

Das Erhabene erleben

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Cato, Palmer, Exklusiv

Unter „Geschichte“ versteht man zumeist Nationalgeschichte, die Geschichte von Völkern in ihren Staatsgebieten oder Siedlungsräumen. Da der Mensch dauerhaft nur auf dem Land leben kann, ist seine Geschichte selbstverständlich Festlandsgeschichte; das Meer erscheint als geschichtsfeindliche Fläche, die der Mensch nur „im historischen Transit“ durchmessen kann. Die Furchen der Kiele verlieren sich sofort im Immergleichen, keine Triumphbögen lassen sich errichten, auf denen die Namen der Sieger verzeichnet sind. Anstatt daß wir das Meer historisieren und humanisieren, scheinen wir eher von ihm naturalisiert zu werden; die großen Meeresschriftsteller wie Melville oder Hemingway zeigen uns ins Elementare zurückversetzte Charaktere, und die philosophische Ästhetik läßt das Erhabene als das Übermächtige, den Menschen zugleich Erhebende und in Schauer Versetzende, am Meer aufscheinen.

„Die Geschichte der Nordsee“ ist ein Titel, der daher ein wenig verwundert, gleichwohl zeigt der NDR-Dokumentarfilm (14., 21., 28. April, jeweils um 21.45 Uhr, im NDR-Fernsehen) von Ingo Helm auf eindrucksvolle Weise, daß das Meer nicht weniger als ein Stück Festland seine Geschichte hat, auch wenn Anzahl und Verweildauer der Menschen auf ihm geringer sein mögen. Es nährt, trennt und verbindet seine Anwohner, verschlingt und offenbart deren Spuren, zieht die Grenzen immer wieder neu, die der Mensch zu seinen Gunsten hinauszuschieben gedenkt.

Die drei Teile des Films unterliegen einem ausgeprägten Spannungsbogen: Die erste Folge beginnt geruhsam, Jahrtausende ziehen wie Meeresrauschen vorüber, verplätschern am Strand, ein bißchen Kultur als Schaumkrone. Die Nordsee ist ein junges Meer, entsteht am Ende der letzten Eiszeit, die Menschen fischen, arbeiten mit Faustkeilen, später mit Bronzewerkzeugen; früh wagen sie sich nach Helgoland, der nur dort vorkommende rote Feuerstein hat – bis heute – magische Bedeutung, die Römer dringen vor, werden zurückgeworfen, die meiste Zeit hat man in ihrer Nachbarschaft sein Auskommen. Die Friesen verteidigen lange ihre Unabhängigkeit, Bonifatius missioniert und stirbt als Märtyrer, das Kreuz siegt, aber Blutrache wird weiterhin geübt.

Dann, zu Beginn des zweiten Teils, tritt um 1500 der moderne Mensch als Handelsherr und Staatsmann auf; das Meer rollt wie je, aber die Wogen der Geschichte folgen schneller aufeinander und türmen sich immer höher. Einzelschicksale werden faßbar: Der Bauernführer Peter Swyn wird erdolcht, weil er den Dithmarschern zu viele Neuerungen aufbürden wollte, Maria von Jever verbringt ihre Jugend in Gefangenschaft, um es später doch noch zur machtbewußten Politikerin zu bringen, und ein Klaus Reimers kann Napoleons Kontinentalsperre durchschmuggeln, weil ihm die schöne Tochter des Leuchtturmwärters nächtliche Zeichen gibt. Die Bauern und Fischer müssen sich an immer neue fremde Gesellschaft gewöhnen, an romantische Dichter und Erholung suchende Touristen. Das erste Seebad wird auf Norderney eröffnet, aber auch der Kriegshafen Wilhelmshaven. Kaiser Wilhelm II. läßt den nach ihm benannten, später umgetauften Nord-Ostsee-Kanal bauen, der Erste Weltkrieg bricht aus, der dritte Teil der Folge beginnt mit donnernden Torpedos und meuternden Matrosen.

Die kurze Friedenszeit ist durch beginnende Umweltzerstörung präsent – die Sylter Austern werden weniger und schmecken schlechter –, doch bald steigert sich das Tempo wieder: Blondzopfige Mädchen reichen einem gewissen Herrn beim Bau des „Adolf-Hitler-Koogs“ Blumen; es wird viel marschiert, Helgoland soll zur Festung ausgebaut werden, wird im April 1945 durch alliiertes Bombardement völlig verwüstet; zwei Jahre später versuchen die Engländer gar, die gesamte Insel wegzusprengen, doch der Fels überdauert.

Dieser „Big Bang“ markiert zugleich ein Ende der „großen Politik“ in der Nordsee; das Primat gehört nun der Ökonomie, freilich einer anderen als früher: Wo die Häfen in den fünfziger Jahren noch eine Welt für sich waren und die Hafenarbeiter mit groben Fäusten zupackten, rattern die Fischstäbchen nun automatisch über die Fließbänder – manchmal sind markige Männerhände aber doch noch nötig: etwa die der Seenotretter beim letzten großen Orkan im Januar 1995. Die Nordsee hat ihre Geschichte und ist auch deshalb weder nur Transportmedium noch reines Nahrungsreservoir.

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