Kurz nach 12 Uhr unterbricht Cubavisión am Montag sein Programm und berichtet über den neuen Hurrikan „Ike“ — den vierten in Folge. Es ist von extremen Regenfällen in den Ostprovinzen Santiago de Cuba, Baracoa und Holguín die Rede. Überall laufen seit dem Vortag die Evakuierungen. Selbst in den sonst als sicher geltenden Bergregionen werden die Dorfbewohner in zentral gelegene Schulen und Krankenhäuser transportiert. Gleichzeitig wird auch für Westkuba die Alarmstufe Rot ausgegeben. Zu diesem Zeitpunkt sind Hunderttausende schon 24 Stunden ohne Strom und Zehntausende obdachlos. Während im Fernsehen nach der kurzen Unterbrechung die Musiker von El Grupo de Compay Segundo ihre Liedchen trällern, lauschen die Evakuierten verängstigt den Nachrichten ihrer Batterieradios. Sie hören, wie Fidel Castro die drohende Katastrophe nutzt, um gegen Verschwendung, Parasitentum und Bequemlichkeit zu wettern und sie erneut auf den Kampf für den Sozialismus einzuschwören. Tapferkeit und Würde des kubanischen Volkes ließen sich nicht von einem Hurrikan hinwegfegen! Was der greise Revolutionsführer nicht sagt: Sein Bruder, Staatschef Raúl Castro Ruz, hat ausgerechnet die USA offiziell ersucht, das seit Februar 1962 bestehende Wirtschaftsembargo auszusetzen und die Vergabe von Krediten für Lebensmittelkäufe zu erlauben. Der Grund für diese Bitte war „Gustav“, jener Wirbelsturm, der Anfang September im Westen Kubas mit Windgeschwindigkeiten von über 390 Stundenkilometern gewütet und mehr als 120.000 Häuser, Tausende Hektar Ackerfläche sowie Lebensmittellager zerstört hat. Für die auf dem Agrarsektor ohnehin völlig ineffektive sozialistische Insel ist die Katastrophe so groß, daß sich die stolzen Revolutionäre zum Canossagang gezwungen sehen. Washington sagte lediglich 100.000 US-Dollar unter der Bedingung zu, daß sich ein Expertenteam vom tatsächlichen Schadensumfang überzeugen kann. Und während „Ike“ Anlauf nimmt, die Insel diesmal komplett von Osten bis Westen aufzurollen, lehnt die US-Außenministerin das Gesuch ab: Auch eine vorübergehende Aufhebung des Regierungsbeschlusses 3447 von John F. Kennedy wäre „keine weise Entscheidung“. Zu diesem Zeitpunkt ist in Kuba eine der größten Evakuierungsaktionen abgeschlossen. Rund eine Million Menschen in elf der 13 Provinzen sind in als sicher geltende Regionen oder Gebäude transportiert worden. Vorsorglich wurde in den bedrohten Regionen der Strom abgedreht. Wenn die KP-Jugendzeitung Juventud Rebelde warnt, daß der Hurrikan zur größten Bedrohung Kubas seit 50 Jahren werden könnte, steckt dahinter mehr als „Ike“. Wirbelstürme sind von Anfang Juni bis November nicht neu. Aber im Gegensatz zum sturmerprobten Westkuba sind speziell im Castro-hörigen Oriente viele erstmals mit Hurrikans konfrontiert. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in den direkt betroffenen Regionen los ist“, sagt eine 35jährige in Santiago de Cuba unter Tränen. Hundert Kilometer weiter in den Bergen um Mayarí Arriba sitzen die Dorfbewohner in der Provinzstadt und haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Entweder hat „Ike“ ihre Bretterhütten verschont, oder die Regierung wird es schon richten. Schließlich heißt der Spitzenkandidat hier Raúl Castro. „Ike“, der Sonntagnacht mit bis zu 260 Stundenkilometern gegen die Ostküste wütet und die kleine Kolonialstadt Baracoa mit sieben Meter hohen Wellen überschüttet, hinterläßt zerstörte Häuser, zerfetzte Strom- und Telefonleitungen und überflutete Nickelminen — und vor allem eine akute Lebensmittelnot. Selbst die Devisengeschäfte sind leergekauft. Es gibt keine Hühnchen, keinen Reis, keine Trockenmilch. Selbst Trinkwasser ist schwer zu bekommen. Allein mit Parolen werden die Castro-Brüder dem nicht begegnen können. Zum Glück für das KP-Regime gibt es weiterhin die Ausrede vom anhaltenden US-Embargo sowie die „Freunde“ Rußland, Venezuela und China, deren erste Hilfssendungen in Kuba eintreffen. Foto: Sturmschäden in Gibara/Provinz Holguín: Erste Hilfssendungen aus Rußland, Venezuela und China
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