Wenn Helmut Schmidt zum Interview angekündigt ist, lohnt sich bei aller gebotenen Verachtung des Mediums der Druck auf den Einschaltknopf. Der Altkanzler wartet mit Lebenserinnerungen und aktuellen Stellungnahmen auf, die den politisch korrekten Meinungsbetrieb durcheinanderbringen. Er spricht von Spielkameraden, die dank dürftiger Herkunft junge Nationalsozialisten wurden, während er dank seiner Abstammung von einem Bankier-Großvater, der sich als Kindsvater aus dem Staube gemacht hatte, vor allzu naiver Begeisterung bewahrt blieb. Er bekennt, daß er weder als junger Rekrut noch bei seiner Flakbatterie im Krieg auf „richtige Nazis“ getroffen sei, „außer einem“. Die Wirklichkeit und das Ausmaß des Mordens, der Name „Auschwitz“ sei ihm bis nach Kriegsende unbekannt geblieben. Wenn Schmidt über den Terror der RAF spricht, über die Schuld am Tode Schleyers, die er mit der Entscheidung gegen den Geiselaustausch auf sich laden mußte, darf er auf teilnahmsvolle Zustimmung rechnen. Wenn er hingegen sich noch eine Zigarette anzündet und erklärt, daß er die unbedachte Anwerbung von „Gastarbeitern“ sowie die ungebremste Einwanderung von „Kulturfremden“ für einen historischen Fehler halte, daß multikulturelle Gesellschaften nur durch einen starken Staat zusammengehalten werden können, umspielt die Lippen der Talkmaster ein säuerliches Lächeln. Daß er die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte für ein stets gefährdetes, für Extreme anfälliges Volk hält, ist zwar das Gegenteil von Nationalismus, klingt den meisten aber zu „völkisch“. Ebenso, wenn Schmidt erklärt, er habe es während seiner Kanzlerschaft versäumt, der bereits erkennbaren demographischen Krise entgegenzusteuern. Am 23. Dezember 2008 wird Helmut Schmidt neunzig Jahre. Wer sich mit Talkshow-Impressionen nicht begnügen möchte, findet zu Schmidts Geburtstag die nonkonformen Zitate in gut lesbarer Form in einem Buch, das der langjährige Spiegel-Journalist Hans-Joachim Noack geschrieben hat. Im Einleitungskapitel schildert Noack eine für seine Bekanntschaft mit Schmidt kennzeichnende Episode. Als „Achtundsechziger“ (Jahrgang 1940) teilte der Autor, wenngleich noch beeindruckt von Helmut Schmidts Leistung als tatkräftig handelnder Hamburger Innensenator während der Flutkatastrophe 1962, viele der gängigen Vorurteile gegenüber dem arroganten Technokraten, dem „Macher“ Helmut Schmidt. Nach einem ersten Interview zeichnete er ein Bild des Kanzlers, das diesen als wesentlich „skrupulöser“ als gemeinhin vorgestellt porträtieren sollte. Im veröffentlichten Text in der Frankfurter Rundschau wurde daraus — Absicht oder Versehen? — ein „skrupelloser“ Akteur. Schmidt zeigte sich nicht dauerhaft nachtragend. Im Sommer 1980 lud er Noack, der sich bei Gelegenheit mit seinen Schachkünsten erneut bei Schmidt empfohlen hatte, zu einer Partie in sein Landhaus (eine verbesserte Wehrmachtsbaracke) am Brahmsee ein. Schmidt schlug ihn umgehend. Er signierte für den derart Versöhnten das Blatt mit den aufgezeichneten Zügen. „Als Kanzler zwischen Brandt und Kohl“ wird Schmidt wird vielleicht nicht zu den herausragenden Figuren der Nachkriegszeit gezählt werden. Ihm, der sich 1974, beim Abgang Willy Brandts (Schmidt: „wegen solcher Lappalien“) durchaus nicht um die freigewordene Rolle des Kanzlers riß, ist die Frage nach dem historischen Rang nicht gleichgültig. Als ihm Hans Apel, langjähriger Vertrauter, einmal schnoddrig beschied, „fürs Geschichtsbuch“ werde es wohl nicht ganz reichen, blieb das Verhältnis nicht ungetrübt. Noacks Buch ruft Schmidts souveränen Umgang mit den Großen der damaligen Politik in Erinnerung: Mit Giscard dEstaing vertiefte er die deutsch-französische Entente, mit US-Präsident Gerald Ford festigte er die atlantische Partnerschaft, mit Leonid Breschnew, dem er in seinem Reihenhaus die „Bewußtseinsspaltung“ eines nichtnazistischen Wehrmachtssoldaten nahebrachte, suchte er trotz neuer Raketen die Entspannung zu erhalten. Schmidts Leistungen als „Ökonom und Politiker“ (Noack) sind bis heute anerkannt. Im Buch fehlen ein paar Fragezeichen: Warum hat sich der Keynesianer Schmidt in der im Gefolge der Ölkrise einsetzenden Rezession nicht dem Problem der wachsenden Schulden zugewandt? Wie und wo versandeten die Milliarden, die Schmidt „seinem Freund“ Edward Gierek als Kredite und Gegenleistung für mehr Aussiedler zukommen ließ? War der von Schmidt als „unzuverlässiger Erdnußfarmer aus Georgia“ titulierte Jimmy Carter, beraten von dem Realpolitiker („Falken“) Zbigniew Brzezinski, tatsächlich so unbedarft, moralistisch und sprunghaft? Ohne die von Schmidt bereits 1977 erkannte „Raketenlücke“ und den von ihm forcierten, von Kohl durchgesetzten „Doppelbeschluß“ wäre die List der Vernunft, Gorbatschows fehlgeschlagene Perestrojka historisch womöglich nicht zum Zuge gekommen. Auch Schmidt könnte sich so zu den Wegbereitern der deutschen Wiedervereinigung zählen. Daß Schmidt sich nicht zum Widerstandskämpfer stilisiert, daß er eine als „Widerstand“ interpretierbare, vergebliche Warnung an die im August 1943 gehenkte Cato Bontjes van Beek, eine Freundin aus dem Schultze-Boysen-Kreis, vergessen hat, daß er einem Verfahren wegen „Wehrkraftzersetzung“ durch Umsicht seiner Vorgesetzten entging, ehrt den Jubilar nicht zum wenigsten. Hans-Joachim Noack: Helmut Schmidt. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Berlin 2008, gebunden, Abbildungen, 317 Seiten, 19,90 Euro