Die Bundesrepublik ist ein „Pionierland Europas beim demographischen Wandel“. Dieses optimistische Resümee zieht Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, aus einer Studie über die Perspektiven der Regionen unseres Kontinents, die seine Forschungseinrichtung soeben publiziert hat. Kein anderes Land, so führt der Wissenschaftler als Ursache für die deutsche Ausnahmerolle an, habe so starke wirtschaftliche und demographische Verwerfungen zu bewältigen. In der Studie werden alle 27 EU-Mitglieder sowie Island, Norwegen und die Schweiz betrachtet. In diesen Staaten identifizierten die Wissenschaftler insgesamt 285 Regionen, deren Zukunftsfähigkeit sie anhand von 24 sozialen, demographischen, wirtschaftlichen und ökologischen Indikatoren bewerteten und für ein Ranking vergleichbar machten. Die Ergebnisse lassen erkennen, daß Deutschland nicht mehr nur – wie in den Zeiten des Kalten Krieges – zwei-, sondern sogar dreigeteilt ist. Während der Süden der Republik mit seiner Prosperität zur europäischen Spitze zählt und der Nordwesten halbwegs passabel über die Runden kommt, ist der Osten von einer Agonie gezeichnet, die jener in der rumänischen oder bulgarischen Provinz ähnelt. Besonders markant kommt dies in der Entvölkerung zum Ausdruck, die weite Teile der „neuen Bundesländer“ erfaßt hat. In manchen Gebieten wird sich dieser Trend sogar noch beschleunigen und bis 2018 zu einem Rückgang der Einwohnerzahl um weitere 50 Prozent führen. Da vor allem die Jüngeren – und hier insbesondere die Frauen – die Flucht in den Westen antreten und die Langzeitarbeitslosen und Rentner zurücklassen, sinken Steueraufkommen, Kaufkraft und Wirtschaftsleistung unaufhaltsam. Mehr als 18 Jahre nach der Wende muß man somit der einstigen DDR Respekt für ihre Leistung zollen, aus diesen Gebieten eine wirtschaftliche Führungsmacht des Ostblocks geschmiedet zu haben. Der Bundesrepublik ist hier nichts Vergleichbares gelungen. Dramatisch ist die Situation gleichwohl nicht: Der Wettbewerb kann nie „ungerechte“ Ergebnisse zeitigen, ganz gleich, ob er zwischen Einzelnen, Unternehmen oder eben Regionen ausgetragen wird. Zudem führt der Bevölkerungsschwund im Osten ja auch dazu, daß dort immer weniger Bürger auf Sozialleistungen angewiesen sein werden. Auch Helmut Kohls Verheißung blühender Landschaften dürfte sich erfüllen, allerdings anders, als sie die Zeitgenossen begriffen: Wo die Menschen weichen, kann die Natur wieder Raum greifen.
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