Der vierte August wird für Kroatien in diesem Jahr ein besonderer Gedenktag: An diesem Tag begann vor zehn Jahren die Operation „Oluja“ (Gewittersturm). Binnen weniger Tage eroberten die kroatischen Truppen das überwiegend serbisch besiedelte Drittel ihres Staatsgebietes zurück, das sich 1991 in einem bewaffneten Aufstand von der nach Unabhängigkeit strebenden Teilrepublik Jugoslawien losgesagt hatte. Die „Republika Srpska Krajina“ zerfiel, ihre Armee löste sich oft noch vor dem ersten Feindkontakt auf, ihr nicht anerkannter „Präsident“ Milan Martic ordnete Hals über Kopf den Massenexodus der serbischen Zivilbevölkerung an und floh in Panik aus seiner „Hauptstadt“ Knin im gebirgigen Hinterland Dalmatiens. Seit dem Frühjahr 1995 war klar, daß die Tage der Serbenrepublik in Kroatien gezählt waren. Uno-Truppen und EU-Beobachter hatten lediglich den Status quo konserviert, der durch den von Belgrad inszenierten Aufstand geschaffen worden war. Die internationale Präsenz hatte weder die Rückkehr der vertriebenen Kroaten ermöglichen noch die Integrität des willkürlich zerschnittenen Staatsgebietes der seit Januar 1992 international anerkannten Republik Kroatien wiederherstellen können. Im Mai 1995 hatte die kroatische Armee mit der Operation „Blitz“ bereits ihre neue Kampfkraft bewiesen und das serbisch kontrollierte Gebiet in Westslawonien zurückerobert, das die Hauptverkehrsadern zwischen dem Norden und Osten des Landes und der Hauptstadt zerschnitten hatte. In Bosnien hatten sich die kroatischen Truppen seither bis auf Schußweite an Knin herangekämpft. Der Fall der Serbenhochburg war nur eine Frage der Zeit. Möglich geworden war diese Wende durch eine Änderung der geopolitischen Lage. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens hatten die Serben die mächtigsten Verbündeten in der westlichen Welt. London und Paris fürchteten nach der von ihnen ungeliebten Wiedervereinigung Deutschlands die Entstehung einer „germanischen“ Einflußzone in Mitteleuropa. Aus ihrer vergangenheitsfixierten Sicht hatte Jugoslawien (bzw. Serbien) in zwei Weltkriegen auf der „richtigen“, die Kroaten dagegen auf der „falschen“ (der deutschen Seite) gestanden. Ein unabhängiges Kroatien schien die Nachkriegsordnung von Versailles und Jalta in Frage zu stellen. In den USA hatte die Mannschaft um Präsident George Bush beste wirtschaftliche und finanzielle Verbindungen zur jugoslawisch-serbischen Regierung von Slobodan Milosevic unterhalten. Brüssel und Washington erklärten übereinstimmend, „Separatismus“ und die Ausrufung neuer Staaten nicht unterstützen zu wollen. Für die großserbische Expansionsstrategie war dies ein Blankoscheck, den sie freilich trotz der erdrückenden militärischen Überlegenheit, die ihr das Erbe der Jugoslawischen Volksarmee sicherte, nicht zu nutzen verstand. Der US-Präsident des Jahres 1995 hieß aber dann Bill Clinton – und der war nicht zuletzt mit Unterstützung der kroatischen und der albanischen Lobby gewählt worden, die über die einseitig proserbische Orientierung Bushs verbittert waren. Die Clinton-Regierung sah in Kroatien das natürliche Gegengewicht zu Serbien und einen notwendigen Faktor für eine politisch stabile Ordnung in Südosteuropa. Trotz offiziell weiterbestehenden Waffenembargos, das Belgrad einseitig begünstigt hatte, konnte die kroatische Armee mit Unterstützung der USA schlagkräftig aufgebaut werden. Durch das kroatische Militär ließ sich auch in Bosnien der serbische Einfluß zurückdrängen und ein wenngleich fragiles Gleichgewicht etablieren, das im Frieden von Dayton im Herbst 1995 festgeschrieben wurde. Während die kroatischen Flüchtlinge in ihre meist zerstörten Häuser in der Krajina zurückkehren konnten, bedeutete der Feldzug für Hunderttausende Serben den Verlust der Heimat. Das war kein erklärtes Ziel der kroatischen Regierung, die die serbische Bevölkerung ausdrücklich zum Bleiben aufgerufen hatte; wer keine Verbrechen begangen hätte, habe nichts zu befürchten. Die überstürzte Evakuierung von Militär und Zivil durch den Krajina-Präsidenten Martic stieß auch in Belgrad auf Befremden; Martic‘ mutmaßlicher Wunsch, als „Arafat der Krajina-Serben“ weiter eine politische Rolle zu spielen, erfüllte sich nicht. Kroatien hatte einen wichtigen Schritt hin zur staatlichen Normalität geschafft, aber noch nicht den Durchbruch. Übergriffe und Kriegsverbrechen, die von Kroaten an Serben und ihrem Eigentum begangen wurden (und die zumindest anfangs von Öffentlichkeit und Justiz nur zögerlich behandelt wurden), lieferten den willkommenen Vorwand für die weitere Diskriminierung Kroatiens in der Staatengemeinschaft. Das Haager Tribunal bestand auf der Auslieferung einer Reihe von populären Kommandeuren, darunter des heute untergetauchten Befehlshabers des Wehrkreiskommandos Split, Ante Gotovina, der als vorgeschobener Grund für die Blockade der Aufnahme Kroatiens in die EU herhalten muß. In der Benennung zahlreicher kroatischer „Kriegsverbrecher“, deren Verantwortung für Übergriffe und Rechtsverletzungen durchaus fraglich ist, spiegelt sich die Strategie, die großserbische Aggression mit dem Hinweis zu relativieren, schlimme Dinge seien schließlich auf allen Seiten vorgefallen. Für Serbien markierten die mit US-Billigung erlittenen Niederlagen in Kroatien und Bosnien den endgültigen Abstieg von der Position des heimlichen Lieblings des Westens, nachdem die Verbrechen serbischer Milizen das Belgrader Image schon vorher ruiniert hatten. Fehlende Einsicht in diese neue Lage ließ das zunehmend isolierte Milosevic-Regime schließlich in den Kosovo-Krieg stolpern – und alles verlieren. Kroatien hat durch die Feldzüge des Jahres 1995 die Souveränität über fast sein gesamtes Staatsgebiet erlangt. Die mehrhundertjährige Siedlungsgeschichte der Serben in Kroatien, die in der Türkenzeit mit der Ansiedlung orthodoxer Grenzgänger und Wehrbauern an der „Militärgrenze“ begann, ist vor zehn Jahren faktisch zu Ende gegangen.