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Sechzig Kilometer des Grauens

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In den großen offiziösen Ausstellungen des Gedenkjahres 1945 zum Kriegsende in Europa und den Folgen wird die Auffassung vertreten, daß die Vertreibung der Deutschen aus nahezu allen Regionen Mittel- und Osteuropas zumindest in der Bundesrepublik immer „ein zentraler Bestandteil“ der Erinnerungspolitik gewesen und nie verdrängt oder tabuisiert worden sei. Demgegenüber steht freilich die Tatsache, daß bis in die späten neunziger Jahre von einer grundlegend wissenschaftlichen historischen Aufarbeitung dieses Komplexes kaum gesprochen werden kann. Als wichtigste Quellenbasis diente das bereits Ende der fünfziger Jahre im Auftrag des damaligen Vertriebenenministeriums erstellte Kompendium „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“. So war es einzig und allein den Initiativen von einzelnen Heimatvertriebenen und ihren Verbänden zu verdanken, daß diese Thematik nicht vollends aus dem historischen und politischen Gedächtnis verdrängt werden konnte. Der Verdrängung anheimgefallen wäre damit wohl auch das Kapitel der Vertreibung der Deutschen aus der mährischen Metropole Brünn und den kleinen, die Stadt umgebenden Sprachinseln wenige Wochen nach Kriegsende, für die sich wegen der hohen Todesraten sowie des besonders brutalen Vorgehens der Terminus „Brünner Todesmarsch“ seit längerem eingebürgert hat. Vor allem der Initiative des Heimatverbandes der Brünner in der Bundesrepublik Deutschland, der BRUNA, ist es – insbesondere durch die Herausgabe ihrer bereits in drei Auflagen erschienenen Publikation „Nemci ven! – Die Deutschen raus!: Der Brünner Todesmarsch 1945“ – zu verdanken, daß dieses besonders tragische Kapitel nicht in Vergessenheit geriet. Alle Deutschen waren vollkommen entrechtet Es bietet ein anschauliches Beispiel für die konkreten Auswirkungen des unmenschlichen Vorgangs, den von insgesamt über 15 Millionen Betroffenen weit über zwei Millionen nicht überlebten. Wurde in den sechziger Jahren ein erheblicher Teil der im Zuge der Vertreibung angewandten Brutalität auf die Entladung von aufgestauten Haß- und Rachegefühle wegen tatsächlicher und vermeintlicher NS-Verbrechen zurückgeführt, ist seit einiger Zeit deutlich belegt, daß es sich um eine strategische Planung der neuen Machthaber zusammen mit den neu eingesetzten kommunalen Verwaltungsorganen handelte. Die Grundlagen der schrecklichen Ereignisse in Brünn waren in der Zeit der tschechischen Exilregierung in London unter dem ehemaligen Staatspräsidenten Edvard Benes gelegt worden. Zwar wurden schon vor dem Kriegsbeginn, insbesondere nach der militärischen Besatzung Böhmens und Mährens im März 1939, Pläne zur „Bereinigung der deutschen Frage“ auf dem Gebiet der vormaligen Tschechoslowakei entwickelt. Eine Chance auf eine praktische Umsetzung bestand indes zu diesem Zeitpunkt nicht. Als Begründung für die „Notwendigkeit dieser Maßnahme“ wurde immer wieder auf die vermeintlich nationalsozialistische Gesinnung der meisten Sudetendeutschen verwiesen – obwohl es unter ihnen selbst zahlreiche Opfer des nationalsozialistischen Terrors gab. Die Möglichkeit, die Vertreibungspläne tatsächlich zu verwirklichen, war erst durch die Gewinnung der Westmächte sowie der Sowjetunion gegeben. Die vollständige militärische Niederlage Deutschlands war die Voraussetzung. Nun konnte der von Benes angestrebte „ethnisch homogene Staat“ geschaffen werden, um es den Deutschen „heimzuzahlen“, wie der einstige Staatschef bei Rundfunkansprachen an das tschechische Volk während der Kriegsjahre immer wieder betont hatte. Am 26. April marschierte die Rote Armee in Brünn ein, von Teilen der tschechischen Bevölkerung als Befreier begrüßt. Die Deutschen hingegen mußten das Schicksal vieler Ostdeutscher teilen und die berüchtigten Massenvergewaltigungen, Plünderungen sowie Beschlagnahme von Wohnungen mitsamt Mobiliar über sich ergehen lassen. Von Beginn an hatte die Besatzungspolitik die vollkommene Entrechtung der Deutschen zum Ziel. Mit verschiedenen Maßnahmen wurde ihnen dieser Umstand ins Bewußtsein gerufen: So mußte jeder Deutsche auf der Straße ein sichtbares N (Niemec – Deutscher) auf seiner Kleidung tragen. Das Verwenden der deutschen Sprache auf offener Straße war streng verboten. Öffentliche Verkehrsmittel durften nicht benutzt werden. Mißhandlungen von Tschechen an Deutschen blieben nach Kriegsende grundsätzlich ungeahndet. Ferner kam es in Brünn ebenso wie im besetzten Deutschland nach dem Einmarsch der Roten Armee zu zahlreichen Verhaftungen. Viele Männer und Frauen wurden in Lagern kaserniert. Am 12. Mai stattete Benes der tschechischen Bevölkerung der Stadt einen Besuch ab. Seine Ansprache auf dem Rathausbalkon heizte die Stimmung gegen den deutschen Bevölkerungsanteil weiter an: „Wir werden Ordnung machen unter uns, insbesondere auch hier in der Stadt Brünn mit den Deutschen und allen anderen. (…) Mein Programm ist – ich verhehle es nicht -, daß wir die deutsche Frage in der Republik liquidieren müssen. Bei dieser Arbeit werden wir alle eure Kräfte brauchen.“ Seine Theorie von der Kollektivschuld der Deutschen unterstrich Benes mit den Worten: „Dieses deutsche Volk ging in das blutige Morden wie blind und taub, widersetzte sich nicht, besann sich nicht, hielt nicht inne, ging und ließ sich stumpfsinnig oder fanatisch töten und tötete selbst. Diese Nation hörte in diesem Krieg auf, überhaupt menschlich zu sein, hörte auf, etwas für Menschen Ertragbares zu sein, und erscheint uns nur noch als ein einziges menschliches Ungeheuer. Diese Nation muß für das alles eine schwere und strenge Strafe treffen.“ „Katastrophal und zutiefst menschenunwürdig“ Die wichtigste Rolle bei der praktischen Durchführung der Vertreibung sollten die kommunalen „Nationalausschüsse“ (Narodny Vybor) spielen. Diese unmittelbar nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen installierten Institutionen setzen sich im wesentlichen aus zwei Gruppen zusammen: Zum einen forderte die Exilregierung in der Endphase des Krieges auf Aufforderung zur Bildung sogenannter „Partisanen“-Einheiten auf, um den Widerstandswillen der tschechischen und slowakischen Bevölkerung zu unterstreichen. Zum anderen waren es Tschechen, die unmittelbar mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert hatten, nun jedoch unter den veränderten Verhältnissen bestrebt waren, ebenso als „Widerstandskämpfer“ zu gelten. Zusammen mit einigen aus dem Moskauer Exil in ihre einstige Heimat zurückgekehrten Kommunisten bildeten sie das Stammkontingent der lokalen Machtorgane – weder durch eine Wahl noch sonst ein demokratisches Verfahren in diese Position gelangt. Am 29. Mai erließ der Nationalausschuß für Groß-Brünn den Aufruf, „alle deutschen Volksgenossen im Interesse von Ruhe und Sicherheit der Tschechen Brünns“ sofort „unter geregelte Aufsicht“ zu stellen und zu „konzentrieren“. Fortan werde nicht mehr geduldet, „daß sich Bürger deutscher Volkszugehörigkeit frei unter der tschechischen Bevölkerung herumtreiben“. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, drohte der Nationalausschuß, „auch streng gegen die tschechischen Bürger“ einzuschreiten, „die, aus welchen Gründen auch immer, Deutsche decken“ oder „ihnen allerlei Vergünstigungen besorgen“. Grundsätzlich dürften bei der Behandlung der Deutschen keine „Ausnahmen“ gemacht werden, da diese „mißbraucht werden und eine berechtigte Unzufriedenheit der Tschechen hervorrufen“ könnten. Alle in der Stadt befindlichen Männer zwischen 14 und 60 Jahren wurden sofort in Arbeitslagern zusammengetrieben. Zu diesen „Sammelpunkten“ zählten neben dem in der Stadt gelegenen ehemaligen Kaunitz-Kolleg die Lager Malmeritz, Julienfeld, Bohonitz, Hodonin bei Kunstadt und Klaidovka. Daneben wurden Lager eingerichtet, die in erster Linie der Internierung dienten. Die dortigen Verhältnisse waren besonders „katastrophal und zutiefst menschenunwürdig“, wie auch vom Internationalen Roten Kreuz, welches über die Zustände von Häftlingen informiert worden war, wenig später festgestellt wurde. Alle anderen Angehörigen der deutschen Bevölkerung Brünns – Frauen, Kinder, Alte sowie die als arbeitsunfähig eingestuften Männer – mußten sich am 30. Mai auf Sammelplätzen in der Stadt einfinden. Nur das Nötigste durfte als „Handgepäck“ in Eile zusammengepackt werden. Generell verschwieg man den Betroffenen häufig, daß ihr „Abschub“ für immer geplant war, um auf diese Art und Weise mögliche Gegenwehr zu unterbinden und sich sämtlichen Hausrat ohne vorherige Auswahl der Wertsachen aneignen zu können. Grundsätzlich wurde an den Sammelplätzen das wenige Gepäck und die privaten Erinnerungsstücke einer „Prüfung“ unterzogen, die im Regelfall von uniformierter Polizei oder Gendarmerie vorgenommen wurde. Dabei gefundene Wertsachen steckten die „Kontrolleure“ häufig in die eigene Tasche. Am frühen Morgen des 31. Mai wurde der zusammengestellten Kolonne der Abmarsch in Richtung der etwa sechzig Kilometer entfernten österreichischen Grenze befohlen. Dem Zug schlossen sich immer neue Gruppen an. Das Schlagen mit Gewehrkolben sowie das Vergewaltigen auch von Kindern und älteren Frauen zählte dabei zu den sich nahezu permanent hinziehenden Machtritualen der „Bewacher“. Wer sich nicht mehr oder nicht schnell genug fortbewegen konnte, wurde geprügelt oder in den Straßengraben geworfen, vereinzelt wurden die sich dort befindlichen Personen auch auf der Stelle erschossen. Die Richtung des Zuges verlief entlang der Ausfallstraße in südöstlicher Richtung über Großraigern und Pohrlitz nach Nikolsburg. In Pohrlitz befand sich ein sogenanntes Zwischenlager, in dem bis zu 3.000 Personen in Baracken untergebracht waren, die in Notfällen für maximal 800 bis 1.000 Personen Raum geboten hätten. Die hygienischen Verhältnisse waren unter diesen Umständen katastrophal. Die Ausbreitung schwerer Epidemien unter den Vertriebenen war eine Folge. Jeden Tag starben etwa einhundert Menschen an Hunger, Ruhr, Typhus oder Erschöpfung. In jedem Ort, der passiert werden mußte, warteten auf die Vertriebenen neue Gefahren: marodierende Banden, die sich einen Spaß daraus machten, Wehrlose zu mißhandeln, Soldaten, die Opfer zur Vergewaltigung suchten, jedoch auch hungernde und verzweifelte Angehörige anderer Vertriebenengruppen, bei denen die Gefahr der Anstreckung bestand oder die mitunter die Chance nutzen, ihre einstigen Mitbewohner selbst durch den Diebstahl der wenigen Lebensmittel zu erleichtern. Für diejenigen, die Anfang Juni die österreichische Grenze bereits in unmittelbarer Sichtweite hatten, gab es ein weiteres großes Problem: Auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich waren die Grenzen für einige Tage gesperrt worden. So konnten immer nur kleine Gruppen die Landesgrenze überschreiten. Ein Teil der vertriebenen Brünner wurde während der Absperrungsmaßnahmen aus dem Zug aussortiert und auf die südmährischen Dörfer als Arbeitskräfte für die Landwirtschaft eingeteilt. Einige von ihnen mußten dort bis in den Winter 1945/1946 hinein bleiben. Doch auch für jene, die die Grenze passieren konnten, war damit ihr Leidensweg noch längst nicht vorbei. In den meisten österreichischen Grenzorten gab es weder Unterkunft noch Verpflegung. Auch dort wüteten Typhus und andere Infektionskrankheiten. Zudem gingen Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten weiter. Daher waren auch noch in Österreich zahlreiche Tote zu beklagen. Dort konnten sie lediglich namentlich erfaßt werden, bevor man sie in Massengräbern beisetzte. Der Todesmarsch kostete etwa 10.000 Menschen das Leben Selbst die Ankunft der ersten Brünner in Wien bedeutete noch keine Rettung. Wer keine Angehörigen hatte, mußte sich in Sammellager in oft nur notdürftig wiederhergerichteten Gebäudekomplexen begeben. Dort waren die Vertriebenen Zugluft und nächtlicher Kälte zum größten Teil schutzlos ausgesetzt, was in ihrem geschwächten Zustand leicht zu schweren Erkrankungen oder gar zum Tod führte. Erst nach mehreren Wochen war es einem Teil möglich, die Stadt per Zug Richtung München oder Nürnberg zu verlassen. Der Todesmarsch der Brünner – der nach aktuellen Schätzungen zusammen mit den während des Marsches in Lager Verbrachten über 10.000 Menschenleben kostete; etwa jeder dritte Vertriebene – war nur der Vorgeschmack darauf, was sich wenige Wochen und Monate auch in anderen Regionen Böhmens, Mährens, Sudetenschlesiens sowie in vielen weiteren Teilen Mittel- und Osteuropas ereignen sollte – wenn auch in einem etwas anderen Rahmen. Die Aufarbeitung dieser historischen Komplexes steckt bis heute in Tschechien allenfalls in den Anfängen. Eine offizielle Entschuldigung der Stadt Brünn an ihre ehemaligen Mitbürger steht bis heute aus. Es gibt zwar einige positive Signale von jungen tschechischen Akademikern an der dortigen Masaryk-Universität, doch in der praktischen Politik ist kaum eine Veränderung zu spüren. So gibt es auch keine Erinnerungsstätte in Brünn, welche an die Vertreibung erinnert. Ende der neunziger Jahre konnte auf Initiative des Österreichischen Schwarzen Kreuzes – Kriegsgräberfürsorge immerhin eine Gedenkstätte in Pohrlitz (dreißig Kilometer von Brünn entfernt) eingerichtet werden; an einem Ort, an dem sich vom 1. Juni bis 12. Juli 1945 ein Zwischenlager befand. Auf einem etwa fußballgroßen Feld sind dort zahlreiche Opfer des Todesmarsches beerdigt, die auf diesem Gelände ums Leben kamen. Neben einem großen Gedenkkreuz befindet sich eine Gedenktafel, auf der in deutscher und tschechischer Sprache die Sätze angebracht sind: „Nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 sind viele deutschsprachige Einwohner aus Brünn und Umgebung ums Leben gekommen. 890 Opfer sind hier bestattet. Wir gedenken ihrer.“ Foto: Am 16. Mai eingeweihte Edvard-Benes-Statue in Prag: Eine Entschuldigung steht bis heute aus Stichwort: Benes-Dekrete Insgesamt 143 Dekrete erließ Edvard Benes. 15 davon, zwischen Mai und Oktober 1945 erlassen, betreffen die Entrechtung und Enteignung der Deutschen und Ungarn in der Tschechoslowakei. Die heutige tschechische Regierung vertritt die Meinung, daß der Ausgang des Zweiten Weltkriegs unrevidierbar und das Potsdamer Abkommen und damit auch die Benes-Dekrete unstrittig sind. Unterstützt werden sie in ihrer Meinung von den USA, Großbritannien und Rußland. Viele Heimatvertriebene erzürnt bis heute vor allem, daß neben ihrer Enteignung und Vertreibung aus den jahrhundertealten Siedlungsgebieten alle Unrechtstaten – die menschenverachtenden Greuel, Folterungen, und Morde zwischen Kriegsende und Vertreibung – durch die Benes-Dekrete amnestiert wurden. Damit sind die von Tschechen an Deutschen begangenen Verbrechen bisher nicht nur ungesühnt, sondern nicht einmal als solche anerkannt.

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Marc Jongen, ESN Fraktion
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