Wenn man der Jubelpropaganda der Brüssel-Anbeter Glauben schenkt, dann soll in der Europäischen Union mit dem Inkrafttreten der EU-Verfassung das Zeitalter der Bürgernähe anbrechen. Tatsächlich ist aber das genaue Gegenteil der Fall, denn in der EU-Verfassung findet sich eine Vielzahl von Klauseln, die es den Eurokraten ermöglichen, noch weit mehr ins Leben eines jeden einzelnen Bürgers einzugreifen, als es bisher schon der Fall ist. Das Subsidiaritätsprinzip, nach dem Angelegenheiten möglichst nahe beim Bürger entschieden werden sollen, wird durch die Verteilung der Zuständigkeiten in einen löchrigen Schweizer Käse verwandelt. Unter dem harmlosen Begriff der „geteilten Zuständigkeit“ sichert sich die EU-Machtzentrale beispielsweise die Hoheit über die Sozialpolitik, über den Umweltschutz, den Verkehr oder die Energie. Die nationalen Parlamente, deren Kompetenzen bisher schon stark beschnitten sind, werden auf die wenig rühmliche Rolle von demokratiepolitischen Feigenblättern reduziert. Eine weitere Bestimmung, welche die Zentralisierungswut Brüssels absichert, ist die sogenannte Flexibilitätsklausel. Dabei wird „flexibel“, was auf deutsch „biegsam“, „anpassungsfähig“ oder „geschmeidig“ bedeutet, wörtlich genommen. Denn Brüsseler kann, um eines der „Ziele der Verfassung“ zu erreichen, sich Bereiche wie die Steuer- oder die Asylpolitik unter den Nagel reißen. Und mit den „Zielen der Verfassung“, die von der „Förderung des Wohlergehens der Völker“ über ein „ausgewogenes Wirtschaftswachstum“ bis hin zum „sozialen Fortschritt“ reichen, lassen sich Eingriffe jedweder Art begründen. Wohlweislich wurden diese Begriffe so schwammig formuliert, daß sich für jeden Akt der Einmischung mühelos eine passende Begründung findet – da kommen Erinnerungen an die Sowjetunion auf. Dieser Blankoscheck Brüssels, ohne Zustimmung der Mitgliedstaaten Kompetenzen an sich zu ziehen, hat für das Leben der Bürger freilich gravierende Folgen. Europarechtsexperten haben schon davor gewarnt, daß Brüssel sogar den Gemeinden vorschreiben könnte, wie viele Kindergartenplätze sie anbieten müssen. Nebenbei ordnet damit die EU-Verfassung auch den Weg zur Liberalisierung gemeinwirtschaftlicher Leistungen ganz im Sinne der Welthandelsorganisation WTO. Der Sozialstaat könnte dann ohne viel Aufsehens am Altar der Interessen multinationaler Konzerne geopfert werden. Doch damit noch nicht genug: Die EU-Verfassung läßt keinen Zweifel darüber offen, in welche Richtung der Europa-Zug fährt. Unmißverständlich wird klargestellt, daß das EU-Recht absoluten Vorrang vor den jeweiligen nationalen Rechten hat. Das könne, so österreichische Verfassungsexperten, nicht ohne erneute Volksabstimmung allein vom Parlament beschlossen werden. Das tiefe Mißtrauen der Brüsseler Zentralisten gegenüber dem Willen der Bürger zeigt sich schließlich auch bei den Rechten des EU-Parlaments. Dieses ist nämlich, entgegen den Gepflogenheiten in demokratischen Staaten, nicht der alleinige Gesetzgeber. Denn es übt die Gesetzgebungsfunktion gemeinsam mit dem Rat aus, der hier quasi als Aufpasser fungiert. Und in der politisch sensiblen Außen- und Sicherheitspolitik hat es erst gar nichts zu sagen, sondern ist bloß „auf dem laufenden“ zu halten. Andreas Mölzer , Publizist, ist FPÖ-Mitglied und seit 2004 Abgeordneter des EU-Parlaments.