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Steine sammeln für ein neues Leben

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Cato, Palmer, Exklusiv

Wenn Jan Krauter mit der Hand über die Tischplatte wischt, beginnt der ganze Tisch leicht zu wackeln. Den jungen Mann stört das wenig. Er ist stolz auf den Tisch, auf seinen Tisch. Eigenhändig hat er das gute Stück, das jetzt in der Stube seines Bauernhauses in dem mecklenburgischen Dorf Klaber steht, aus einem Baumstamm getischlert. „Man sieht eben, daß ich Schmied bin und kein Tischler“, verteidigt sich Krauter. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Schmied ist er – Bankkaufmann war er. Bevor der 28 Jahre alte Mann aus Niedersachsen nach Mecklenburg kam. Bevor er begann, mit seiner 22 Jahre alten Frau ein Leben zu führen, das so unmittelbar ist, daß es für das junge Paar selbstverständlich war, den großen Eßtisch für ihr schlichtes Heim nicht in einem Möbelhaus zu kaufen, sondern in Eigenarbeit herzustellen. Auch in dem Dorf Koppelow, rund 20 Kilometer westlich von Klaber gelegen, steht ein Tisch mit einer Geschichte. Groß, rund und standfest. Er ist nicht selbstgebaut – dafür das Haus, das extra um ihn herum geplant worden ist. „Bei einem so großen Tisch mußten wir uns vor dem Bau Gedanken darüber machen, wo er stehen soll“, erzählt Hausherr Huwald Fröhlich, der den Tisch vor einigen Jahren aus einem verlassenen Betrieb in der Nähe gerettet hat. Mit ihren Frauen und Kindern gehören Jan Krauter und Huwald Fröhlich zu einer kleinen Schar von vier gleichgesinnten Familien, die sich in Mecklenburg den Traum von einem unabhängigen Leben erfüllen. Ganz bewußt haben sich die Männer und Frauen entschieden, aus der Gesellschaft „auszusteigen“, um ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ihr Ziel ist es, möglichst viel von dem, was sie zum Leben benötigen, selber herzustellen. Und so backen sie ihr Brot aus dem eigenen Getreide und fertigen Kleidung aus der Wolle ihrer Tiere. Auf den Tisch kommt, was der eigene Garten hergibt, und wenn es notwendig ist, bauen sie auch ihre Häuser selber. Entschlossen stemmen sie sich gegen die Entfremdung der modernen Welt mit all ihren Discount- und Baumärkten und versuchen ihr Leben auf das Ursprüngliche zurückzuführen. Der große runde Tisch ist häufig Mittelpunkt der Siedler. Neben Familie Fröhlich haben sich heute auch Jan und Gerhild Krauter mit ihren drei kleinen Söhnen zum Essen eingefunden, ebenso die anderen Siedler mit ihren Kindern. Nicht immer wird gemeinsam gegessen. Aber heute ist Mittwoch, und an diesem Tag versammeln sich die Frauen häufig in dem Haus der Fröhlichs, spielen gemeinsam mit den Kindern, backen und kochen. „Ohne die Frauen geht es nicht“, sagt Fröhlich. „Unser ganzer Lebensentwurf steht und fällt mit ihnen, unsere Frauen müssen mitmachen.“ Und mehr Verzicht üben als die Männer, fügt er hinzu. Während diese durch ihre Berufe meist täglich Kontakte mit der „Außenwelt“ hätten und häufiger in die Städte, etwa nach Teterow oder Güstrow kämen, seien die Frauen in der neuen Umgebung „mit Sack und Kindern“ an den Hof gebunden. Viele Siedler entstammen der Bündischen Jugend Vor dem Essen greift Jan Krauter zur Gitarre und stimmt ein Lied an, das von Wanderungen durch ferne Länder erzählt. Alle singen mit, der Text ist vertraut. Ein Hauch von Lagerfeuerromantik erfüllt die Runde und weist zu den Wurzeln der Gemeinschaft. Die meisten am Tisch entstammen der Bündischen Jugend und waren als Jugendliche gemeinsam auf „Fahrt“, auf Wanderschaft. „Doch man kann ja nicht bis 50 in kurzen Lederhosen herumlaufen“, sagt Fröhlich. Das Leben braucht neue Ziele. Also zogen Fröhlich und Helmut Ernst als erste die Lederhosen aus und machten sich auf nach Mecklenburg, um seßhaft zu werden. Beide wurden so zu den Begründern der kleinen Siedlungsbewegung. Bald folgten die anderen, um auf dem Land, auf „der eigenen Scholle“, eine krisenfeste Existenz aufzubauen – jenseits von Job-Gipfeln und Arbeitnehmersparzulage. Alle verbindet das Ziel, sich so unabhängig wie möglich zu machen von einem Staat, dem sie nicht mehr viel zutrauen und von dem sie längst nichts mehr erwarten. „Wir sind eine eher lockere Gemeinschaft. Wir haben ganz formlose Strukturen, die in keiner Satzung festgeschrieben sind“, beschreibt Krauter das Verhältnis der Familien untereinander. Sie legen Wert darauf, möglichst unabhängig voneinander zu bleiben. Eine Kommune, in denen alles gemeinsam entschieden wird, ist ihnen fremd. „Jeder geht seiner eigenen Arbeit nach und trifft seine eigenen Entscheidungen“, verdeutlicht Krauter den Unterschied. Natürlich helfen sich die Siedler, wenn notwendig. Etwa beim Hausbau. Da trifft es sich, das einer von ihnen, Dietmar Hanke, Architekt ist. Derzeit baut er in einem Nachbardorf an seinem eigenen Heim. Bis das alte Fachwerkhaus saniert ist, wohnt er mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern auf engsten Raum in einem kleinen Wirtschaftsgebäude. Für eine gewisse Distanz zwischen den Siedlern sorgen schon die Entfernungen. Die Familien verteilen sich auf drei Dörfer. Eine noch weitere Streuung wollen sie in Zukunft jedoch vermeiden. Neuankömmlinge sollen in einem Radius von 25 Kilometern um Koppelow angesiedelt werden, dem Mittelpunkt der Gemeinschaft. Koppelow selbst ist ein Dorf ohne Anfang und Ende. Die wenigen Häuser verlieren sich an der alten Dorfstraße, die sich vielfach verzweigt und – bergauf, bergab – in alle Richtungen führt. Die Landschaft ist hier hügeliger als in anderen Gegenden Mecklenburgs. Einige Kilometer entfernt führt die Autobahn 19 am Dorf vorbei. Eine unverhoffte Lebensader, die Touristen zur nahen Müritz und zur etwas weiter entfernteren Ostsee bringt. Die Arbeitslosigkeit ist, wie überall in der Gegend, hoch. Im Landkreis Güstrow liegt sie derzeit bei über 20 Prozent. Viele, vor allem die Jungen, wandern ab. Alkoholismus ist schon bei der Jugend verbreitet. Die Perspektivlosigkeit, die sich breitgemacht hat, ist für das Land mittlerweile ebenso charakteristisch wie die uralten Backsteinkirchen, um die sich die Dörfer scharen. Koppelow ist mit zwei Siedlerfamilien nicht nur der Siedlungsschwerpunkt der Gemeinschaft. Hier nahm alles seinen Anfang: Koppelow ist ein altes Artamanendorf. Noch bevor unter dem Eindruck der ökologischen Bewegung am Ende des vorherigen Jahrhunderts so manche linke Land-Kommune gegründet wurde, kehrten Anfang der zwanziger Jahre schon einmal junge Menschen dem bürgerlichen Leben und den grauen Mauern der Städte den Rücken. Viele von ihnen entstammten der Jugendbewegung der Vorkriegszeit und machten sich nun daran, ihre Ideale, die sie über den Krieg gerettet hatten, in die Tat umzusetzen. Sie wollten der Entfremdung der Moderne entfliehen und sich den Lebensunterhalt auf den Äckern und Feldern wieder selbst erarbeiten. Aus dieser Bewegung ging der „Bund Artam“ hervor. Die Artamanen, ihrem indogermanischen Namen nach „Hüter der Scholle“, zogen im Laufe der Zeit rund 25.000 Mitglieder in ihren Bann. Neben dem romantisch, antimodernistisch und kulturkämpferisch geprägten Ansatz vom Leben auf der eigenen Scholle verfolgten sie auch politische Ziele. Die Artamanen strebten eine neue Binnenkolonisation an, um den Druck der polnischen Landarbeiter von den Ostprovinzen des Reiches zu nehmen. Dort verdingten sich Tausende Polen auf den großen Gütern, während die deutsche Landbevölkerung in die Städte abwanderte. Daher kauften die Artamanen vor allem in Ostpreußen Güter auf und teilten das Land unter Siedlungswilligen auf. Aber auch in Mecklenburg erwarben sie Siedlungsland, etwa in Koppelow. Heute bewohnt Helmut Ernst eines jener alten, in den dreißiger Jahren errichteten schlichten Artamanenhäuser. Er ist, anders als bei ihren Vorbildern im vergangenen Jahrhundert, der einzige Bauer der Gemeinschaft. Auf 200 Hektar betreibt der Agraringenieur ökologischen Ackerbau und versorgt die Familien mit Getreide. Gegen die Artamanen von einst nimmt sich die Handvoll Siedler, für die der große runde Tisch Platz genug bietet, wie ein verlorenes Häuflein aus. Sie sagen dagegen, ein Anfang ist gemacht. Wie für ihre Vorgänger ist ihnen das Leben auf dem Land mehr als nur reine Selbstverwirklichung. Sie wollen mit dazu beitragen, der von vierzig Jahren Sozialismus materiell und ideell ausgelaugten Landschaft neue Impulse zu geben. Doch bis die Siedler der Gegend um Koppelow ihren Stempel aufdrücken können, wird noch viel Zeit vergehen, das wissen sie. „Um wirklich etwas bewegen zu können ist eine bestimmte Masse notwendig“, sagt Jan Krauter und rechnet vor, daß etwa zwanzig Familien notwendig seien, um die von ihnen geplante freie Grundschule zu finanzieren. Die zwölf Kinder der Siedler-Familien werden daher bis auf weiteres die wenigen übriggebliebenen staatlichen Schulen der Gegend besuchen müssen. Nicht nur aus diesen Gründen werden ständig neue Mitstreiter gesucht. Interessenten gäbe es viele, aber den letzten Schritt wagen nur wenige. Im Februar vergangenen Jahres schalteten die Siedler daher in der JUNGEN FREIHEIT eine Anzeige, in der Menschen mit Pioniergeist gesucht wurden, die Anschluß an eine bäuerlich geprägte Gemeinschaft suchen. „Zehn Interessen haben sich gemeldet“, erzählt Krauter. Von den drei Familien, die sich vor Ort ein Bild gemacht haben, wollen demnächst zwei den Schritt in ein neues Leben wagen und nach Mecklenburg ziehen. Zwei von zehn: Viele überlegten lange, vielleicht zu lange, wovon sie auf dem Land leben sollen. Zudem ist der Ausstieg aus der Konsumgesellschaft nicht billig. Halfen zur Zeit der Artamanen sogenannte Siedlungsbanken, müssen die Siedler von heute ihre Häuser und Grundstücke selbst finanzieren. Und über allem steht die Frage: Wovon leben? Von der Landwirtschaft, die heute kaum mehr etwas für Laien ist, können die wenigsten leben. „Wir können vor allem Handwerker wie Maurer und Elektriker gebrauchen“, versucht Krauter Unentschlossenen eine Brücke zu bauen. Für alle, die einen Beruf ausübt, der für das Landleben wenig geeignet ist, kann der ehemalige Bankkaufmann als Vorbild dienen. Seiner Abkehr von der Welt der Banken und Aktien folgte eine Umschulung zum Schmied. Ein ungewöhnlicher Weg. Aber spätestens als Jan Krauter mit kurzen Lederhosen beim Leiter des zuständigen Arbeitsamtes erschien, war die letzte Hürde aus dem Weg geräumt. „Sie sehen wirklich nicht aus wie ein Bankkaufmann“, hatte der Mann zu ihm gesagt und die Umschulung bewilligt. Als Jan Krauter vor zweieinhalb Jahren mit seiner Familie nach Mecklenburg kam, verdiente er sich den Lebensunterhalt zunächst auf denkbar einfache Art und Weise: Der ehemalige Wertpapierhändler sammelte auf den Äckern von Helmut Ernst Steine. Mittlerweile ist das nicht mehr nötig. Krauter hat sein Auskommen als Schmied gefunden. Seine Schmiede hat er in einem alten Stall des Gutshofes von Klaber eingerichtet. Mittelpunkt ist die mächtige Esse. „Die hat mir ein Schlossergeselle auf der Walz gebaut“, erzählt Krauter. Kennengelernt hatte er den Handwerker auf einem Jahrmarkt, auf dem der Schmied dem neugierigen Publikum seine Künste vorführte. Die beiden kamen schnell ins Geschäft. Zwei Wochen später konnte Jan Krauter eine imposante Esse sein eigen nennen, und der Handwerksgeselle zog zufrieden und mit einem Handwagen voller Werkzeuge, die Krauter ihm als Lohn geschmiedet hatte, davon. Ursprünglich wollte der ehemalige Bankkaufmann als Dorfschmied arbeiten, doch die Zeiten sind nicht mehr danach. Also erweiterte er sein Angebot und bietet jetzt unter anderem auch künstlerisches Schmiedewerk an. Heute jedoch brennt kein Feuer in der Schmiede, fliegen keine Funken. Sich einfach mal einen Tag freizunehmen, sagt Jan Krauter, sei auch ein Ausdruck der neugewonnen Freiheit. „Es ist ein gutes Gefühl, wenn man sein eigener Herr ist und sich am Morgen überlegen kann, womit man den Tag verbringen will.“ Die jahrhundertealte Ordnung ist längst gefallen Von der Schmiede führt der Weg am alten Gutshaus vorbei zum Haus der Krauters. Das Schloß steht leer und ist für 60.000 Euro zu haben. In einem Landstrich, in dem jedes zweite Dorf ein Schloß zu bieten hat, ist das viel. Die alte Ordnung, die das Dorf jahrhundertelang geformt hatte, ist längst gefallen, die leere Hülle wird ihr bald folgen, der Abriß droht. Doch Krauter hat andere Sorgen. Er will den Gemeinderat dazu bewegen, entlang dem grundlosen Weg, der noch zum Schloß führt, Bäume zu pflanzen, damit er sich nicht mehr in den Wiesen verliert. Das kleine Haus der Krauters aus der Zeit der Bodenreform liegt im hintersten Winkel des Dorfes, mitten im ehemaligen Schloßpark. Gleich dahinter beginnt das freie Feld. Wer sich umsieht, beginnt zu ahnen, wie entbehrungsreich das Siedlerleben ist. Alles ist im Werden, es geht nur langsam voran. Besonders stolz ist der Schmied auf das neue Gewächshaus. Es erleichtert seiner Frau die Gemüsezucht und sichert der Familie ein weiteres Stück Unabhängigkeit. Der Ausbau des Hauses indes wird noch Jahre dauern, berichtet Krauter. Bislang steht der Familie im Erdgeschoß ein Wohnraum und eine kleine Küche zur Verfügung. Doch bei allen Entbehrungen: Jan Krauter läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß er und seine Familie ihr Glück gefunden haben – daran kann auch ein wackelnder Tisch nichts ändern. Foto: Jan Krauter (r.) vor seinem Haus zusammen mit Ernst (m.) und Fröhlich; Schmiede; Blick auf Klaber: Eine lockere Gemeinschaft ohne Satzung und festgefügte Strukturen Stichwort: Siedeln auf den Spuren der Artamanen In den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zogen in Deutschland Tausende junger Menschen aus den Städten aufs Land, um ein einfaches und naturnahes Leben zu führen. Aus dieser Siedlungsbewegung, der viele ehemalige Wandervögel angehörten, ging der „Bund Artam“ hervor. Die Artamanen siedelten vornehmlich in Ostpreußen und Mecklenburg. Mitte der dreißiger Jahre wurde die
Organisation auf Betreiben der Nationalsozialisten aufgelöst. In Mecklenburg knüpfen junge Familien seit einigen Jahren an die Ideen der Artamanen an und suchen ständige weitere Mitstreiter. Für den kommenden Sommer wird zudem eine junge Frau gesucht, die für ein kleines Taschengeld einige Monate auf einem Hof mitarbeiten möchte. Interessenten können unter der Tel.-Nummer 038456 / 66856 Kontakt mit den im Beitrag vorgestellten Siedlern aufnehmen.

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