Das Buch von Joseph Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., über „Glaube, Wahrheit, Toleranz“ behandelt schwierigste Fragen der Theologie, der Philosophie, aber auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Politik auf höchstem Niveau, in verständlicher Sprache, überaus realitätsnah und in Auseinandersetzung mit den führenden Sprechern des Zeitgeistes. In der Darstellung ihrer Positionen wird die intime Kenntnis der Literatur nur noch von der überlegenen Urteilskraft übertroffen. Wer wissen will, weshalb Ratzinger nach wenigen Wahlgängen und mit so großer Einmütigkeit des Kardinalkollegiums zum Papst gewählt wurde und was von seinem Pontifikat zu erwarten ist, sollte zu diesem Buch greifen. Die Frage, um die sich das ganze Buch dreht, ist nach der Wahrheit in der Begegnung der verschiedenen Kulturen (Teil 1) und Religionen (Teil 2). Sie zu stellen ist gewagt, denn wir leben in einer Zeit, in der die Wahrheitsfrage verdrängt, ihre wissenschaftliche Legitimität verneint oder geradezu mit Verboten belegt wird. Erscheint nicht „der Anspruch auf die Erkenntnis von Wahrheit heute als Bedrohung von Toleranz und Freiheit“? Stellt nicht der Anspruch des Christentums, die einzig wahre Religion zu sein, eine inakzeptable Anmaßung gegenüber allen anderen Religionen dar? Führt nicht dieser Wahrheitsanspruch zu einer unerträglichen Intoleranz Andersgläubigen gegenüber? Welche Rolle spielt die Wahrheitsfrage in der Begegnung mit anderen Kulturen oder im Dialog mit Vertretern anderer Religionen? Sind solche Begegnungen und Dialoge unter Verzicht auf die Wahrheitsfrage überhaupt möglich, oder werden sie durch solchen Verzicht sinnlos? Führt nicht das Beharren auf Wahrheit zur Ablehnung der Meinungsfreiheit oder gar der Demokratie und zur Bejahung von Diktatur und Autoritätsgläubigkeit? Wer solche Weltprobleme aufwirft, befindet sich schnell im Auge des zeitgeistigen Taifuns und droht von ihm mitgerissen zu werden. Ratzinger stellt sich ihm entgegen, verbindlich im Ton, kompromißlos in der Sache. Hier wenigstens ein paar Beispiele für die Stringenz seines Denkens: „Freiheit ohne Wahrheit ist keine Freiheit“. Gibt es keine Wahrheit, hat die Freiheit keine Richtung und kein Maß, sie stößt ins Leere, das Leben wird sinnlos. Jean-Paul Sartre hat die radikale Trennung von Freiheit und Wahrheit und die Verneinung der Wahrheit bis in ihre letzte Konsequenz durchdacht. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nur Freiheit. Er ist zur Freiheit „verdammt“, doch eine „sinnlose Freiheit ist des Menschen Hölle“. Die anarchische Freiheit „macht den Menschen zum mißratenen Geschöpf, zum Sein ohne Sinn“. Die Rebellion gegen die Wahrheit führt – wie Sartre scharfsichtig gesehen hat – in eine Existenz des Selbstwiderspruchs, in die Zerstörung des menschlichen Seins, in Entfremdung und Entmenschlichung. Nirgends wurde das deutlicher als in den atheistischen Systemen der Neuzeit, dem jakobinischen Demokratismus, dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus, die alle aus der neuzeitlichen „Aufklärung“, dieser „lebensgefährlichen Erkrankung des menschlichen Geistes“ hervorgegangen sind. „Der ganzen Aufklärung gemeinsam ist der Wille zur Emanzipation“. Kants „sapere aude – wage, deine Vernunft selber zu gebrauchen“ bedeutet mit dem Vertrauen auf die Absolutheit der rationalen Erkenntnis Absage an alles Religiöse, „Irrationale“, d.h. Unvernünftige. Nur die Vernunft soll herrschen, „was nicht vernünftig, das heißt einsichtig ist, kann nicht verpflichten“. Die einzelmenschliche Vernunft ist „autonom“, ihr eigener Gesetzgeber und höchste Autorität. Sie verzichtet auf Gott. Aber was ist vernünftig? Jedes tiefere Nachdenken über die Vernunft führt zu der Einsicht, daß „die menschliche Vernunft gar nicht autonom ist“. Kant selber brach die von ihm in der Erkenntnistheorie verschlossene Tür zur Metaphysik wieder auf, als er sich auf das Gebiet der Sittenlehre begab und dort als ihre denknotwendigen Voraussetzungen („Postulate“) Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele anerkennen mußte. Kant lieferte damit den Beweis, daß „die philosophische Ethik auf den Gottesgedanken und auf den Gedanken einer Wahrheit des Seins, die ethischen Charakter hat, nicht verzichten kann“. Deus est esse – Gott ist das Sein und zugleich der höchste Wert, das Gute und „der Gute“ schlechthin (Mk, 10,18). „Platon hatte recht, als er das höchste Göttliche mit dem Guten identifizierte“. „Die drei Fragen nach der Wahrheit, nach dem Guten, nach Gott sind nur eine einzige Frage“. Könnten wir die Wahrheit über Gott nicht erkennen, dann bleibt auch die Wahrheit darüber, was gut und was böse ist, unzugänglich. Und wenn es darauf keine Antwort gibt, tappten wir auch in den wesentlichen Fragen unseres Daseins im Dunkeln. Um sich in diesem Dunkeln nicht zu verlaufen, knüpfte noch jede große Philosophie an religiöse Traditionen an, empfängt von dort her „Erhellungen und Wegweisungen“, ganz gleich, ob wir dabei auf die Philosophie Griechenlands oder Indiens, auf die Philosophie, die sich im Inneren des Christentums entfaltet hat, oder auch auf die neuzeitlichen Philosophien blicken: „Kant, Fichte, Hegel, Schelling wären ohne die Vorgaben des Glaubens nicht denkbar“. Alle große Philosophie findet ihren letzten Halt, ihr „Heil“ im Glauben. Wo sie den Glauben ausblendet, verliert sich die Philosophie „in einem leer werdenden Ernst“, wie das Jaspers einmal treffend formulierte. Doch auch das Umgekehrte gilt: Philosophie und Vernunft reinigen den Glauben. Die Überwindung des Polytheismus ist ihr Werk. Die Götterwelt hält der Prüfung durch die Vernunft nicht stand, die „mosaische Unterscheidung“ (J. Assmann) trennt die „falschen“ Götter von dem „wahren“ Gott, der Ein-Gott-Glaube räumt den Götterhimmel auf, in dem Krieg, Intrige, List, Verstellung, Täuschung, Betrug oder Untreue und noch viel Schlimmeres zur Tagesordnung gehörten. Die Frage des Sokrates an den Priester Eutyphron, ob denn die Götter zugleich fromm und unfromm oder gut und schlecht seien, macht die Widersprüche bewußt und bringt damit die für Religion, Kult, Kultur und gemeinschaftliches Zusammenleben in der Polis gleichbedeutsame Frage nach der Wahrheit und dem Guten ins Spiel. Geschichtlich geht die Vernunft an den Rändern des Mittelmeers auf den Gott zu, der sich in der Offenbarung zeigt. Offenbarung und Vernunft „korrespondieren“, sie antworten aufeinander im Fragen nach dem eigentlich Göttlichen und gemeinsam sind sie imstande, die „wahre Religion“ zu erkennen. Diese erlebt ihren nicht mehr aufhebbaren und nicht mehr hintergehbaren Höhepunkt im „Einbruch“ Gottes in die Geschichte. Diesen Tatbestand hat Jean Daniélou mit großem Nachdruck hervorgehoben: „Das Christentum ist wesenhaft Glaube an ein Ereignis“, während die nichtchristlichen Religionen das Dasein einer ewigen Welt behaupten, „die zur Welt der Zeit in Gegensatz steht“. Sie, diese nichtchristlichen Religionen, teilen den Zug zur Geschichtslosigkeit mit der Mystik, in der Gott in bezug auf den Menschen sich passiv verhält und der Mensch sich Gott auf dem Stufen- oder „Lichtweg“ aktiv zu nähern versucht. „Menschwerdung“ ist dagegen ein Tun und Handeln, ein Abstieg Gottes zum Menschen hin, der datierbar ist und zur Begegnung von Person zu Person wird, von Ich und Du. Christus läßt sich mit der Geschichte ein, er wird zum „Gravitationspunkt der Weltgeschichte“. Jesus von Nazareth ist „der menschgewordene Sinn der Geschichte, der Logos, das Sich-Zeigen der Wahrheit“. Vor seinem Auftreten weist die Geschichte auf ihn hin, nach seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung läuft die Geschichte auf die Vollendung der Menschwerdung Christi in ihrer ganzen Fülle zu. Von ihrem Anfang bis zum Ende vollzieht sich in der Geschichte die Menschwerdung Gottes. Christus ist der ewige Mensch, der alles an sich zieht, der ewige Leib, der alle vereint. „Die Begegnung der Kulturen und das allmähliche Zusammenwachsen der Geschichtsräume zu einer einzigen gemeinsamen Menschheitsgeschichte liegt im Wesen des Menschen selbst begründet“. „Quer durch die Kulturen geht das Wissen um die Verwiesenheit des Menschen auf Gott und das Ewige; das Wissen um Sünde, Buße und Vergebung; das Wissen um Gottesgemeinschaft und ewiges Leben und schließlich das Wissen um die sittlichen Grundordnungen, wie sie im Dekalog Gestalt gefunden haben.“ Dieses Wissen zeugt von „der Einheit des Menschseins und sein gemeinsames Angerührtsein von der Wahrheit“. Menschen, Kulturen und Religionen streben alle nach Wahrheit, sie unterliegen der Dynamik ihres eigenen Gewissens und der stillen Anwesenheit Gottes in ihm, welche sie reinigt und aufeinander zuführt, hin zu dem einzigen Retter und seiner Kirche. Nicht Gewalt und Intoleranz kennzeichnen diesen Weg der Zusammenführung, sondern die Liebe zur Wahrheit, die Gott selber ist. Als Benedikt XVI. leiht Ratzinger der Kirche eine Stimme, die selbst für die verstocktesten Intellektuellen unüberhörbar sein wird. Joseph Kardinal Ratzinger: Glaube, Wahrheit, Toleranz . Das Christentum und die Weltreligionen. Herder-Verlag, Freiburg 2004, 220 Seiten, gebunden, 16,90 Euro Dr. Friedrich Romig lehrte Politische Ökonomie und war Mitglied der Europakommission der Österreichischen Bischofskonferenz. Foto: Joseph Kardinal Ratzinger vor seinem Pontifikat: „Sinnlose Freiheit ist des Menschen Hölle“