Die heftigen Auseinandersetzungen um den G8-Gipfel Anfang Juni in Heiligendamm haben ein altes Thema sozialistischer Ideologie neu auf die Tagesordnung gesetzt: „Armut und soziale Gerechtigkeit“. Entscheidenden Anteil an dieser Aktualisierung hatte – wieder einmal – die evangelische Kirche insgesamt, vor allem aber der zur gleichen Zeit in Köln veranstaltete Evangelische Kirchentag. In einer Vielzahl von Resolutionen und Aktionen, von Gebetsandachten und Glockenläuten, von Interviews maßgebender Repräsentanten der evangelischen Kirche und Teilnahme verschiedener kirchlicher Gruppen an den Protestveranstaltungen, von wissenschaftlichen Vorträgen und biblischen Meditationen wurden die Proteste gegen den G8-Gipfel flankiert und theologisch legitimiert. Bei allen notwendigen Differenzierungen ist abermals offenkundig geworden, wie weit sich die Früchte des christlich-marxistischen Dialogs in der evangelischen Kirche seit dem äußeren Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme ausgebreitet haben. Eine erste Erklärung ist die Tatsache, daß offenkundig sozialistische Parolen angesichts des Desasters von 1989 sehr viel behutsamer verkündet werden, wenngleich die einschlägigen Sympathisantenkreise der Sozialisten bis heute keinen Zweifel daran lassen, daß der „wahre Sozialismus“ für sie nach wie vor ein Traum bleibe, weil er ein angeblich ein „unaufgebbares Humanum“ bewahre. An diese Vorstellung knüpft die jetzige Diskussion auch nahtlos an – wenn auch zugegebenermaßen „mit ein bißchen anderen Worten“, weniger sozialistisch, mehr theologisch. Viele Äußerungen in dieser Auseinandersetzung vermitteln tatsächlich eine durchaus fromme Anmutung, so wenn es wie ein Cantus firmus heißt: „Armut ist gegen Gottes Willen“ oder „Kirche muß Anwalt für die Schwachen sein, für die Entwürdigten, für die an den Rand Gedrängten“ oder „um Gottes willen muß die Stimme der Christen für eine gerechtere Welt hörbar werden“. Wer möchte dem widersprechen? An biblischen Belegen für derartige Aussagen fehlt es bekanntlich nicht. Im Laufe der Kirchengeschichte sind aus ihnen immer wieder sehr konkrete sozialrevolutionäre Forderungen gezogen worden. Sie haben sich allmählich zur Legende vom Liebeskommunismus des Urchristentums verdichtet. Maßgebenden Anteil an der Entstehung und Verbreitung dieser Legende hat Friedrich Engels. Nach langem intensiven Quellenstudium hat er wenige Monate vor seinem Tode im März 1894 eine grundlegende Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Zur Geschichte des Urchristentums“ veröffentlicht. Sie hat also quasi die Bedeutung eines Vermächtnisses. Veranlaßt wurde diese Schrift durch Engels‘ realistische Einsicht, daß die Geschichte anders verlaufen ist, als sie nach den Grundsätzen des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus hätte verlaufen müssen. Engels gab unumwunden zu: „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“ (MEW 22,515). Deshalb müßten sich die Sozialisten von der Vorstellung lösen, der Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft führe unbedingt über die Barrikaden der klassischen Revolution. Ganz im Gegenteil! Es wäre ein „Wahnsinn“ und Ausdruck politischer Unfähigkeit, wenn man das alte (richtige Ziel) auf den alten als solchen erkannten Irrwegen fortsetzen wollte. Die Revolutionäre sollten sich darauf einstellen, daß die Revolution sich nicht als „Akt“ ereignet, wie zum Beispiel die Französische Revolution oder die Pariser Kommune, sondern „friedlich“ als ein unmerklicher Prozeß der allmählichen Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft unter Ausnutzung ihrer inneren Widersprüche. Zu den entscheidenden Erfahrungen, die bei der Neuorientierung dieser politischen Taktik unbedingt beachtet werden sollten, gehörte für Friedrich Engels eine veränderte Einstellung zur Religion. Sie hatte sich im Laufe der Geschichte immer wieder als ein wesentliches Element politischer Kontinuität und gesellschaftlicher Stabilität erwiesen. Diese Tatsache sei von den Revolutionären allgemein und von den Sozialisten im besonderen nicht hinreichend beachtet worden. Er nimmt ausdrücklich Bezug auf die Verfolgung von Kirchen und Gläubigen während der Französischen Revolution und der Pariser Kommune. Sie haben das Gegenteil von dem bewirkt, was sie damit erreichen wollten. Zu den grotesken Irrtümern der Revolutionäre gehörte zum Beispiel die Vorstellung, so die sarkastische Bemerkung Engels‘, daß man Gott „per Dekret“ abschaffen könne. Dabei wurden die reichen kirchengeschichtlichen Erfahrungen mißachtet, „daß Verfolgungen das beste Mittel sind, mißliebige Überzeugungen zu befördern“ (MEW 18,522). Die moderate Tonart, in der Engels das Thema Christentum und Sozialismus behandelt, sollte allerdings nicht den Eindruck erwecken, als ob er am Ende seines Lebens einen grundsätzlichen Sinneswandel vollzogen hätte. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Die Grundsätze der marxistischen Religionskritik werden keinesfalls verworfen, sondern lediglich aus zeitbedingten Umständen erklärt. Der von Marx formulierte Grundsatz: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ ist von Engels in keiner Weise eingeschränkt worden. Sie sollte eben nicht aggressiv und frontal geübt werden, sondern im Sinn der veränderten Taktik mit den Methoden einer allmählichen Zersetzung – zunächst der Religion, dann der Gesellschaft insgesamt. Dazu gehört eine differenzierende Argumentation, in der eine deutliche Unterscheidung zwischen den „sozialen Prinzipien des Urchristentums“ und dem Verhalten der Kirchen in der „bürgerlichen Klassengesellschaft“ erkennbar sein müsse. Diese Doppelstrategie kann bis heute verfolgt werden. Zunächst kann der Eindruck vermittelt werden, daß der Kampf gegen Armut, Ungerechtigkeit und Ausbeutung keineswegs spezifisch sozialistische Anliegen seien, sondern einstmals auch der Christen. In diesem Sinn leitet Engels seine grundlegende Schrift „Zur Geschichte des Urchristentums“ aus dem letzten Lebensjahr mit folgender Feststellung ein: „Die Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten und zersprengten Völker. (…) Beide werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet und unter Ausnahmegesetze gestellt, die einen als Feinde des Menschengeschlechts, die anderen als Reichsfeinde, Feinde der Religion, der Familie, der gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgungen, ja sogar direkt gefördert durch sie, dringen beide siegreich unaufhaltsam vor. Dreihundert Jahre nach seinem Entstehen ist das Christentum anerkannte Staatsreligion des römischen Weltreichs, und in kaum sechzig Jahren hat sich der Sozialismus eine Stellung erobert, die ihm den Sieg absolut sicherstellt“ (MEW 22,449). Auf diese Weise ist das Thema durch einen sehr einfachen, aber nach wie vor wirksamen Kniff in den Trichterkreis der Reduktion auf sozialistische Fragestellungen geraten. Damit sind heftige theologische und innerkirchliche Kontroversen ausgelöst worden – eine wesentliche Voraussetzung für die Einleitung und Entwicklung des von Engels angestrebten Zersetzungsprozesses der bürgerlichen bzw. christlichen Tradition und Moral. Man denke nur an das in der evangelischen Kirche vorherrschende Meinungsklima, das nach 1945, insbesondere aber nach 1968 durch ungezählte theologische Abhandlungen, kirchliche Erklärungen, Aktionen und Dialoge mit Sozialisten sowohl in der DDR als auch in der früheren Bundesrepublik durch die sogenannten Genitiv-Theologien erzeugt worden ist: Theologie der Hoffnung, der Revolution, der Befreiung, des Dialogs und einigen mehr. Bei allen Differenzierungen im einzelnen stimmen diese „Theologien“ darin überein, daß die Bibel angeblich „die Partei der Armen ergreift“ und daß in der sicher notwendigen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus die Gemeinsamkeiten betont und die Unterschiede zurückgestellt werden müßten. Es kann und soll nicht bestritten werden, daß es in der Bibel tatsächlich genügend Belegstellen gibt, die diese Auffassung zu stützen scheinen. Es genügt für diesen Zusammenhang die Erinnerung an die alttestamentlichen Bestimmungen des Erlaß- und des Halljahres, in denen nach sieben bzw. 49 Jahren eingetretene soziale Mißstände beseitigt und der ursprüngliche, gottgewollte Zustand wiederhergestellt werden sollte. „Es soll ein jeglicher zu seiner Habe und zu seinem Geschlecht kommen“ (3. Mose 25,10). Das heißt konkret: Alle Schulden sollten erlassen werden, Zwangsverkäufe aufgehoben und in die Sklaverei geratene Menschen ihre Freiheit wiedererlangen. Nicht minder eindeutig, wenn auch in anderer Begründung, wird das Thema im Neuen Testament behandelt. Bekannt ist das sprichwörtlich harte Wort Jesu über die Reichen: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes komme“ (Matth. 19,24). Weniger bekannt ist die Ankündigung eines „unbarmherzigen Gerichts“ Gottes: „Weinet und heulet über das Elend, das über euch kommen wird. Ihr habt wohlgelebt auf Erden und eure Wollust gehabt“, während die Arbeiter in Not leben mußten. Aber diese Not der Arbeiter schreit buchstäblich zum Himmel „bis in die Ohren des Herrn Zebaoth“ (Jak. 5,1ff.). Einen drastischen Eindruck von diesem Gericht vermittelt das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus. Während Lazarus nach dem Tode im Schoße Abrahams sitzt, muß der reiche Mann in den Tiefen der Hölle schmachten, ohne Aussicht auf eine Erlösung aus seiner Situation (Luk. 16,19 ff.). „Also geht es, wer sich Schätze sammelt und ist nicht reich in Gott,“ (Luk. 12,21) das heißt, daß er Gottes Gebot der Barmherzigkeit und Nächstenliebe gegenüber den Armen und Notleidenden mißachtet. Kein sozialistischer Agitator hat das „unbarmherzige Gericht“ über die Reichen härter angekündigt als in diesem Gleichnis. Dennoch liegt mit diesen Aussagen kein Argument für eine angebliche Gemeinsamkeit von urchristlichen und sozialistischen Einstellungen zum Thema Reichtum und Armut vor. Seit Platon wissen wir, daß das Wesen einer Sache oder einer Idee nicht aus den Gemeinsamkeiten mit anderen erkannt werden kann, sondern in erster Linie aus den qualitativen Unterschieden, so klein sie auch sein mögen. Alle Religionen und Ideologien haben deshalb im Laufe der Jahrhunderte immer wieder die Notwendigkeit der Geisterscheidung (der sogenannten Diakrisis, 1. Kor. 12,10) betont und praktiziert. Auch Engels war sich dieses unvereinbaren Gegensatzes zwischen Urchristentum und Sozialismus vollauf bewußt. Beide verheißen zwar die Erlösung aus Not und Knechtschaft, aber „das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel; der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft.“ (MEW 22,449) Engels hat damit den entscheidenden Widerspruch zwischen den Grundprinzipien des Christentums (auch des Urchristentums) und dem Sozialismus angesprochen: Die Lösung der sozialen Probleme hängt nicht von den gesellschaftlichen Strukturen ab, sondern von der Beachtung der von Gott gesetzten Gebote. Es kommt nicht auf die Veränderung der Gesellschaft, sondern auf die Veränderung der Menschen an. Tatsächlich findet sich im Neuen Testament keine Kritik am Reichtum an sich, sondern an denjenigen Reichen, die sich unbarmherzig verhalten und damit gegen die von Gott gesetzte Ordnung und die Gebote verstoßen. Es ist richtig, daß der Verzicht auf Reichtum, in weiterem Sinn auf jeden persönlichen Besitz, sowohl in der urchristlichen Gemeinde (Apg. 4,32) als auch später im Mönchtum und in bestimmten Kommunitäten in der Neuzeit praktiziert worden ist – allerdings immer freiwillig und nicht im Sinn einer Unterordnung unter neue gesellschaftliche Strukturen. Im Gegenteil! Als sich Zöllner und Soldaten, die Vertreter der verhaßten römischen Besatzungsmacht, taufen ließen, stellten sie die Frage, was sie denn nun tun müßten? Sie erhielten die Antwort: „Fordert nicht mehr, denn gesetzt ist“ und „Tut kein Unrecht und laßt euch an eurem Solde genügen“ (Luk. 3,13f). Noch deutlicher wird diese Einstellung zum Verhalten eines Christen in den alten gesellschaftlichen Strukturen im Philemon-Brief des Apostel Paulus. In ihm wird berichtet, daß Paulus einen entflohenen, von ihm getauften Sklaven zu seinem „rechtmäßigen“ (!) Herrn zurückschickt, allerdings in der Erwartung, daß ihn der Herr nicht nur als einen treuen Knecht, „sondern als seinen lieben Bruder“ (V.16) annimmt, und damit die herrschende Rechtsauffassung unterläuft. Es bedarf in diesem Zusammenhang keiner ausführlichen Begründung, weshalb die Sozialisten aller Schattierungen in dieser „Liebessabbelei“ keinen Ansatz zur Lösung des Problems der Armut sehen können, auch nicht nach einem jahrzehntelangen Dialog mit Christen. Deshalb stellt sich die Frage, ob in diesem Dialog künftig weniger die Gemeinsamkeiten, sondern auch die gravierenden Gegensätze von Christentum und Sozialismus zur Sprache kommen müßten. Dazu sollte das bedacht werden, was Dietrich Bonhoeffer zu diesem Thema gesagt hat: „Wer sagt uns eigentlich, daß alle weltlichen Probleme gelöst werden können und sollten? Vielleicht ist Gott die Ungelöstheit dieser Probleme wichtiger als ihre Lösung, nämlich als Hinweis auf den Sündenfall der Menschen und auf Gottes Erlösung. Vielleicht sind die Probleme der Menschen so verstrickt, so falsch gestellt, daß sie eben wirklich nicht zu lösen sind. Das Problem von Armen und Reichen wird sich eben nicht anders lösen lassen, als indem es ungelöst bleibt“ (Ethik, 277). Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin. Er ist langjähriger Kolumnist der JUNGEN FREIHEIT. Bild: Giovanni Paolo Pannini, Jesus vertreibt die Händler aus dem Tempel (um 1750): Die Lösung der sozialen Probleme hängt nicht von den gesellschaftlichen Strukturen ab, sondern von der Beachtung der Gebote Gottes
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