Mit Deutschland hat der bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Mitgliedstaat der Europäischen Union die Ratspräsidentschaft übernommen. Dabei gehen die Erwartungen an Berlin mit der Größe des Landes einher. Allerdings könnten die Erwartungen der Bürger und jene des Brüsseler Polit-Establishments unterschiedlicher nicht sein. Die Bürger, die sich zunehmend in der Rolle des Untertanen wiederfinden, wünschen ein Europa, in dem souveräne Nationalstaaten die tragende Rolle spielen, ein Europa, das einen Schutz bietet gegen die Auswüchse der Globalisierung und eines hemmungslosen Liberalismus, und vor allem ein Europa, das sich seiner Identität und seiner Grenzen bewußt ist. Im Gegensatz dazu steht das EU-Europa für Zentralismus, erfüllt brav die Vorgaben der Welthandelsorganisation und damit der multinationalen Konzerne und der internationalen Hochfinanz und will sich – entgegen der geistig-kulturellen Tradition seiner Mitglieder – ins Unendliche erweitern. Bei diesem Gegensatz wird sich die neue EU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, aller Voraussicht nach auf die Seite der Brüsseler Zentrale schlagen und in die Rolle einer Erfüllungsgehilfin der Eurokratie und deren mächtiger Drahtzieher im Hintergrund schlüpfen. Zwar meinte sie Anfang Dezember, Eu-ropa den Bürgern „näherbringen“ zu wollen. Aber derartige Lippenbekenntnisse sind in der EU im Halbjahresrhythmus, jeweils vor dem Wechsel der Ratspräsidentschaft, immer zu hören. Währenddessen warten die Bürger mit zunehmender Ungeduld darauf, wieder zum Souverän zu werden. Im Mittelpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird die Wiederbelebung der europäischen Verfassungsleiche stehen. Schon erklärte die Kanzlerin, daß „wir einen Verfassungsvertrag brauchen“. Zwar ist nicht zu erwarten, daß das Regelwerk unter ihrem Vorsitz in Kraft treten kann, aber im kommenden Halbjahr werden die dafür notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. Mit besonderer Spannung wird zu beobachten sein, welche politischen und juristischen Tricks dabei zur Anwendung kommen. Denn dem Plan der Zentrale in Brüssel stehen bekanntlich noch immer die Volksabstimmungen des Jahres 2005 im Weg, bei denen sich die Franzosen und Niederländer gegen diesen zentralistischen Vertrag ausgesprochen haben. Als wahrscheinlichstes Szenario wird die EU-Verfassung in einigen unwesentlichen Punkten geändert und dann Franzosen und Niederländern nochmals zur Abstimmung vorgelegt. Diese Vorgehensweise hat sich in der Geschichte der EU – nachdem die Dänen den Vertrag von Maastricht und die Iren jenen von Nizza abgelehnt hatten – bereits zweimal „bewährt“, um unerwünschte Entscheidungen der Bürger zu korrigieren. Und natürlich soll vor nochmaligen Referenden Europa, in diesem Fall die EU-Verfassung, den Bürgern „nähergebracht“ werden, wie die Propaganda im EU-Politsprech bezeichnet wird. Allerdings bestehen gute Chancen, daß dieser Schuß nach hinten losgeht. So meinte die Kanzlerin, daß Umfragen zufolge mehr als 70 Prozent der Bundesbürger für die EU-Verfassung seien, aber nur sieben Prozent eine gewisse Vorstellung davon hätten, „was in diesem Verfassungsvertrag überhaupt drinsteht“. Wenn die Bürger aber Kenntnis vom Inhalt der EU-Verfassung, allen voran der weiteren Aushöhlung der Souveränität der Nationalstaaten hätten, stünden die beiden Werte wohl im umgekehrten Verhältnis zueinander. Höhepunkt der deutschen Ratspräsidentschaft soll die Unterzeichnung der „Berliner Erklärung“ am 25. März sein. Weil sich an diesem Tag zum fünfzigsten Mal die Unterzeichnung der Römischen Verträge jährt, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründet hatten, sollen die EU-Granden in der deutschen Hauptstadt ein Dokument unterzeichnen, das Auskunft über die vielzitierten „Werte“ der Europäischen Union geben soll. Schließlich sei, so Merkel, ein gemeinsames Verständnis darüber „auch die Voraussetzung, mit anderen Kulturen und Religionen in einen ernsthaften und ehrlichen Dialog einzutreten“. In geradezu generöser Weise wird für den Steuerzahler, der das ganze Polit-Spektakel bezahlen muß, parallel zum Berliner Gipfel ein „großes Bürgerfest“ organisiert. Wenn der Bürger schon nichts zu sagen hat, dann soll er wenigstens eine sich selbst feiernde, abgehobene politische Pseudo-Elite bejubeln. Ob der Souverän dieses Geschenk mit Dankbarkeit annehmen wird, darüber werden die Meinungsumfragen zum Ende des deutschen EU-Vorsitzes Auskunft geben. Daß die „Berliner Erklärung“ endlich ein Bekenntnis der EU zur geistig-kulturellen Identität Europas, also zu jener des christlichen Abendlandes enthalten wird, darf freilich nicht erwartet werden. Eher wird das Papier, wie unzählige andere in der Geschichte der EU auch, eine Aneinanderreihung von diplomatischen Floskeln und inhaltsleeren Absichtserklärungen sein. Denn die real existierende Europäische Union unserer Tage hat das über Jahrhunderte gewachsene geistige und kulturelle Fundament des alten Kontinents schon längst verlassen, wie nicht zuletzt die Beitrittsverhandlungen mit der islamischen Türkei zeigen. Und erst kürzlich meinte Merkel, die nebenbei auch noch Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union ist, allen Ernstes, die EU sei kein „Christenklub“. Wer nun erwartet, daß Europa sagen wird, wo seine Grenzen liegen, dürfte gehörig enttäuscht werden. Die Beitrittsgespräche mit Ankara werden denn auch der Glaubwürdigkeits-test für Merkel sein. Zur Beruhigung der Bürger, die den Türkei-Beitritt mit großer Mehrheit ablehnen, ist aus ihrem Munde immer wieder die Phrase von den „ergebnisoffenen Verhandlungen“ zu vernehmen. Daß Helmut Kohls politische Ziehtochter die fast täglichen Beweise für Ankaras nicht vorhandene EU-Reife wie die verheerende Menschenrechtslage oder die sture Weigerung, Zypern anzuerkennen, nicht zum Anlaß nehmen wird, um das Türkei-Abenteuer zu beenden, liegt aber auch daran, daß sich Merkel im Zangengriff der Türkei-Lobby befindet. Voll und ganz der außenpolitischen Tradition der Bundesrepublik verpflichtet, gilt es, nur ja kein eigenes Profil zu zeigen. Und innenpolitisch heißt es für Merkel und ihre schwarze Truppe – von Störfeuer aus Bayern abgesehen -, den roten Regierungspartner, der als Anwalt Ankaras auftritt, nicht zu verärgern und so die bei den Bürgern unbeliebte Große Koalition zu gefährden.