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Wider den Bildungsdünkel!

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Wider den Bildungsdünkel!

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Wie geht man mit denen um, die man zur „Unterschicht“ rechnet, in neuem Soziologendeutsch: zum „Prekariat“? Wie geht man mit ihren Kindern und Jugendlichen um, wenn die Verrohung der Sitten den Umgang erschwert? Daß etwa die Masseneinwanderung begrenzt werden soll, darin sind sich die meisten einig. Nimmt man aber Stellung gegen die „Landnahme und Enteignung durch die Zuwanderung von Unterschichtsangehörigen“ (JF 18/07), dann stellt sich die Frage: Wird hier nicht einseitig der Gedanke einer Invasion primitiver Eroberer nahegelegt und die Glückssuche armer Menschen sowie deren Menschenwürde verkannt? Notwendige Begrenzung der Einwanderung und notwendige Wahrung der Menschenwürde – ein Dilemma? Dieses fast unlösbare Problem kann hier nur anklingen. Die Gesellschaft und die Erzieher stehen heute keineswegs zum ersten Mal vor der Frage des Umgangs mit Armen, Entwurzelten, Verwahrlosten. Schon der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) hat sich diesem Problem mit seiner ganzen Kraft und Persönlichkeit gestellt und in Stans nach kriegsbedingten Verwüstungen ein Internat in einem Flügel des Ursulinerinnen-Klosters für Armen- und Waisenkinder mit Industrie- und Landwirtschaftsarbeit gegründet – allein mit nur einer Haushälterin und schließlich rund 80 dieser Kinder. Die damalige Not ist in ihren seelischen Wirkungen in manchem mit der heutigen Arbeitslosigkeit vergleichbar, wenngleich im Unterschied zu heute auch materielles Elend herrschte. Das Gemeinsame ist: Sinnverlust, Perspektivlosigkeit, Sittenverrohung. In Pestalozzis „Stanser Brief“ erfahren wir etwas von den Schwierigkeiten und Krisen mit schwerstgeschädigten, schwersterziehbaren Kindern und werden unterrichtet von seinem Bemühen: Was hilft ein akademischer Bildungsgrad, was der aktuelle Stand der Wissenschaft, um die gewaltigen Aufgaben zu lösen? Hat uns heute der „Fortschritt“ der Erziehungswissenschaft, der Lehrerbildung, die Umleitung der Schülerströme aufs akademische Gleis eine Steigerung der kognitiven Bildung gebracht? Im Gegenteil! Das Ergebnis einer Langzeitstudie des Max-Planck-Instituts und der Universität Würzburg, bei der 200 Kinder ein Diktat aus den 1960er Jahren geschrieben haben, wörtlich: „Würde man das Rechtschreib-Niveau von damals zum Maßstab nehmen, wären drei Viertel der heutigen Kinder Legastheniker“ (AP Hamburg, 28. Juli 2006). Pestalozzi: „Je gelehrter und gebildeter die meisten Menschen waren, mit denen eine Verbindung möglich gewesen, desto weniger verstanden sie mich und desto unfähiger zeigten sie sich, die Anfangspunkte auch nur theoretisch festzuhalten, auf die ich zurückzugehen suchte. Der ganze Gang ihrer Ansichten … war meinen Ansichten durchaus fremd. Am meisten aber widerstrebte ihnen der Gedanke … bloß die die Kinder umgebende Natur, die täglichen Bedürfnisse und die immer rege Tätigkeit derselben selbst als Bildungsmittel zu benützen.“ Und: „Ich konnte nicht anders, ich mußte auf den erhabenen Grundsatz Jesu Christi bauen: Macht erst das Inwendige rein, damit auch das Äußere rein werde – und wenn je, so hat sich dieser Grundsatz in meinem Gange unwidersprechlich erprobet.“ Das intellektualistische Oben/unten-Denken, das Beschwören einer sogenannten Wissensgesellschaft als höchstwertiges Ziel, stellt eine problematische Verengung des Begabungsspektrums auf eine einzige, die theoretisch-wissenschaft- liche Begabung dar. Gegen alle Erziehungs- und Belehrungsmethoden seiner wissenschaftlich „aufgeklärten“ Zeit kämpfte sich Pestalozzi zu ganz einfachen, „volkstümlichen“ Praxiswahrheiten durch. Versetzen wir uns in eines der verelendeten Kinder. Solche Kinder merken bei Pestalozzis Vorgehen dreierlei: 1. Sie werden täglich herangezogen zur tätigen Teilnahme an zuverlässigen haushälterischen Besorgungen zu ihrem eigenen Wohl. Auf die Zuwendung des ermutigenden und zurechtweisenden liebenden Erziehers können sie sich verlassen. Ihr „Herz“ wird angesprochen, da ihr chaotisches Leben in Ordnung kommt. 2. Ihre „Hand“, das heißt ihre Sinne und vorberufliche Fertigkeiten werden geübt in praktischer Arbeit, in Seidenraupenzucht, Spinnen, Weben, um zugleich den Schulunterhalt zu bestreiten. Sie fühlen sich nützlich, wichtig, wertvoll, auch für die Gesellschaft. Vorher war ihr Leben sinnlos. Wird in dieser Weise realer Lebensstoff mit (erstens) Herz und (zweitens) Hand verarbeitet, in Gemüts- und Sinneserfahrung, dann erst wird man 3. reif zum denkenden, kognitiven Verarbeiten, auch im Danken und Beten, dann erst erwacht zu authentischem Leben und Tätigkeit im „Kopf“ (drittens), was sonst als leeres Gerede des Erziehers verrauscht wäre. Nach diesem Blick in das mögliche Innere eines Zöglings nun Pestalozzis eigener Praxisbericht aus dem Stanser Brief – der dreischrittigen Bildung von Herz, Hand und Kopf: „Meine diesfällige Handlungsweise ging von dem Grundsatz aus: (1) Suche deine Kinder zuerst weitherzig zu machen und Liebe und Wohltätigkeit ihnen durch die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse, ihren Empfindungen, ihrer Erfahrung und ihrem Tun nahezulegen, sie dadurch in ihrem Innern zu gründen und zu sichern, dann (2) ihnen viele Fertigkeiten anzugewöhnen (wirtschaftliches Lernen, Üben mit der ‚Hand‘), um dieses Wohlwollen in ihrem Kreise sicher und ausgebreitet ausüben zu können! Endlich und zuletzt (3) komme mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen, mit den Wörtern (auch Schulunterricht): Knüpfe diese an die täglichen häuslichen Auftritte und Umgebungen an und sorge dafür, daß sie gänzlich darauf gegründet seien, um deinen Kindern klarer zu machen, was in ihnen und um sie vorgeht, um eine rechtliche und sittliche Ansicht ihres Lebens und ihrer Verhältnisse mit ihnen zu erzeugen! Aber wenn du Nächte durchwachen müßtest, um mit zwei Worten zu sagen, was andere mit zwanzig erklären, so laß dich deine schlaflosen Nächte nicht dauern.“ – Wie sehr brauchen heute nicht nur die Kinder des „Prekariats“, sondern die meisten Schüler die Nutzung ihres vorberuflichen Praxisdranges und der Vielfalt ihrer Begabungen statt einseitig kognitiver Anforderungen und wortreicher Belehrung! Im vorigen Jahrhundert wurde Eduard Spranger (1882-1963) bedeutend für die Persönlichkeits- und Begabungspsychologie. Angeregt von Pestalozzi und den neuhumanistischen Vordenkern der preußischen Reformzeit Anfang des 19. Jahrhunderts, suchte er im 20. Jahrhundert Anhaltspunkte für ein zukunftweisendes Bildungsideal. Er findet sie in den inzwischen emanzipierten, phänomenhaft gegebenen Groß-Gebilden der objektiven Kultur, sechs verschiedenen Kultur- oder Wertgebieten mit institutioneller Tendenz: Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion (Kirche). Gibt es sie objektiv, das war sein fruchtbarer Gedanke, dann muß es subjektiv in jedem Menschen alle entsprechenden Fähigkeiten, Wertmotive, Geistes-Richtungen geben, die sich je nach Anlage, Umweltbedingungen, Bildungsgelegenheiten, Neigungen ausbilden in ganz verschieden gemischten, individuellen – politischen, sozialen, ökonomisch-technischen, theoretischen, ästhetischen und religiösen – Begabungsprofilen. Gegenüber diesem Konzept ist das intellektualistische Oben/unten-Denken, das Beschwören einer sogenannten Wissensgesellschaft als höchstwertiges Ziel, eine problematische Verengung des Begabungsspektrums auf eine einzige, die theoretisch-wissenschaftliche Begabung. Die Vielfalt anderer Fähigkeiten wird unterdrückt. Die Werbung für die integrierte „Gesamtschule“ verspricht allen Schülern „gleiche (Aufstiegs-)Chancen“ zum Abitur – als Tor zum wissenschaftlichen Studium. Die Umbenennungen dieser Anstalt sprechen für die Schwierigkeiten, die sich jedesmal bei der Realisierung solchen schulorganisatorischen Denkens einstellten. Mit neuen Namen will man neues Interesse wecken für das gutgemeinte deutsche Schüler-Sammelbecken: „Einheitsschule“ in den 1920er Jahren, „Gesamtschule“ seit den 1960er Jahren, dann auch „Stufenschule“, neuerdings „Gemeinschaftsschule“, „eine Schule für alle“ usw. Spätestens seit rund 50 Jahren sind die Nachteile der späteren Differenzierung der Schullaufbahnen in der Lern-Entwicklungspsychologie bekannt. Von aller seriösen Forschung ungerührt, werden noch immer Empfehlungen zur äußeren Änderung unseres durchlässigen Schulsystems zur Differenzierung erst nach dem besten Lernalter (dem 5. bis 6. Schuljahr) ausgestreut, etwa durch Verlängerung der Grundschule nach dem 4. Schuljahr, statt daß endlich Gemeinsamkeit für eine innere Schulreform erreicht wird. Die Künste und Techniken, für die die meisten Menschen viel mehr begabt sind und in denen viele höher „aufsteigen“ könnten als in eher theoretisch gerichteten akademischen Laufbahnen, sind in der Schule oft vernachlässigte oder gar vom Stundenplan gestrichene „Nebenfächer“. Das ist ein Unheil und Fluch für die meisten Menschen, vor allem für Volks- und Hauptschüler. Diesem Schul-Kognitivismus ist eine elementare Groß-Einteilung in Gebiete oder Sektoren der Kultur im Sprangerschen Sinne entgegenzustellen: Läßt man die Vielfalt der Gebiete wirken, so neigt der eine mehr zu diesem, der andere zu jenem Gebiet, je nach Fähigkeiten, die sich unter Umständen bei unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten zu einem Profil dieser oder jener Art ausbilden, je nach Persönlichkeit. Die Kulturbasis ist dann das Personzentrum als Entstehungsstelle der Verzweigung der subjektiven Begabungen und die Breite der objektiven Verantwortungsfelder. Sie ist der Stamm, aus dem Zweige in die Höhe wachsen können, die verschiedenartige Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Wer als Lehrer heute jedem Kind oder Jugendlichen pädagogisch gerecht zu werden versucht, sollte ein Bewußtsein der Vielfalt menschlicher Begabungen, zugehöriger Kulturgebiete und Berufszweige entwickeln. Bei dieser Sicht wird man dem üblichen eindimensionalen Oben/unten-Denken und Aufstiegsdenken abschwören, etwa den Sprüchen „vom Kindergarten zur Universität“, „vom Arbeiterkind zum Akademiker“. Nicht daß einem Arbeiterkind eine Akademiker-Laufbahn im Verhältnis zu anderen Kindern erschwert werden darf! Aber dabei geht es um seine Persönlichkeit. Ein Meister in einem größeren Betrieb verdient ohnehin etwa soviel wie ein Lehrer, ein Studienrat, ein Professor – ein Handwerksmeister als Unternehmer oft wesentlich mehr. Die Wirtschaft mißt mit anderen Wertmaßstäben als gewisse Bildungsexperten, Erziehungswissenschaftler, Soziologen, die die vom bloßen Oben/unten-Denken geprägte Gesellschaftsschichten-Theorie vertreten. Zu den Klischees der letzten Jahrzehnte gehört „das katholische Mädchen vom Lande“. Landmädchen, Eltern von Arbeiter- oder Bauernkindern sind Spott, Mitleid, Hochmut und Dünkel ausgesetzt. Die Werteskala ist ethisch primitiv und menschenunwürdig. Hier lullt ein gefährlicher rhetorischer Chancengleichheits-Nebel lähmend unser kritisches Denken ein. Die Chancen sind verschiedenartig, aber gleichwertig: je nach Begabungsrichtung. Der verengte Blick auf kognitive Begabung und Abitur verdeckt und verdunkelt Wert und Chancen aller anderen Begabungen. Zu den Klischees der letzten Jahrzehnte gehört „das katholische Mädchen vom Lande“. Landmädchen, Eltern von Arbeiter- oder Bauernkindern sind Spott, Mitleid, Hochmut und Dünkel ausgesetzt. Die Werteskala ist ethisch primitiv und menschenunwürdig. Vergessen wird bei der heutigen Privilegierung einseitig akademischer, kognitiver Bildungsziele der andere, der deutsche volksschul- und berufspädagogisch-duale Weg (zwischen Berufsschule und Betrieb), der in der Welt als vorbildlich gilt. Vergessen wird das frühere bodenständige, nicht kognitivistisch abgehobene, sondern niveauvolle Kulturbasis- und Breitenbildungs-Angebot für alle in der Grundschule (als Teil der Volksschule), aber auch in der Volksschuloberstufenbildung (5. bis 9. Schuljahr). Volksschulabsolventen stellten noch in den 1960er Jahren über 70 Prozent des Schülerjahrganges. Seit Jahrzehnten verspielen wir das, wofür wir uns seit Pestalozzi, Schleiermacher und den Gebrüdern Humboldt in der Welt hohes Ansehen errungen haben. Gelandet sind wir auf Pisa-getestetem Niveau. Unseren Weg in der Geschichte des Bildungswesens mißachten wir Deutschen schmählich. Wir sind unterwegs zur europäischen Rebellion der Bildungs-Outlaws à la Frankreich. Selbst in der Wirtschaft gilt akademische Bildung schon als Elitemerkmal. Werden daraus Manager, dann gelegentlich finanzielle Glücksritter, denen Bodenständigkeit, erarbeitete Kenntnis der Fundamente und Praxis fehlt und die an der Börse zuviel, am Wohl der Mitarbeiter zuwenig interessiert sind. Wir brauchen eine Wiederverlebendigung der Tradition der deutschen Volks- und Berufsbildung und der humanistischen und realistischen deutschen Gymnasial- und Hochschulbildung. Die deutsche Bildungstradition, um die uns andere beneiden, enthalten wir uns und anderen Ländern vor, die daraus lernen könnten; wir stülpen uns vom Mittelalter überkommene angloamerikanische Studienmodelle über und finden uns wieder auf Bachelor-Niveau. Wiederzubeleben ist aber unsere Kulturbasis, ist mit der Volksbildungstradition die christlich-religiöse und christlich-werkkulturelle Handwerks- und Kunstgesittung Europas, unserer größeren kulturellen Heimat – und die deutschen Kultur- und Sprachgüter unserer nationalen Heimat. Wilhelm Flitner hat in seinem großartigen Buch „Europäische Gesittung“ (1961) an der Schwelle europäischer Unionsbemühungen dafür die Augen geöffnet. Ohne ein solches historisches Identitätsbewußtsein, das zu ersterben droht, könnten wir Europäer und besonders wir Deutschen, namentlich die Lehrer unter uns, resignieren. Wollen wir das nicht, dann sollten wir unsere Anstrengungen und leidenschaftlichen Bemühungen auf die Jugend richten, auf die Persönlichkeits- und Volksbildung, wozu wesentlich Nachkommenschaft, deren Erziehung, Bildung und unsere Kulturtradition gehören. Was helfen kulturelle Hochbauten, wenn das Fundament bricht; wenn nicht unsere Identität und Kulturbasis gestärkt wird und fremde Einwanderer zugleich überzeugend integriert werden. Überzeugen aber kann man nicht aus Schwäche und Unbestimmtheit, sondern nur mit starkem und darum aufgeschlossenem Identitätsbewußtsein. Prof. Dr. Wolfgang Hinrichs war Volksschullehrer und -konrektor und lehrte Pädagogik an der Universität Siegen.

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