Die Wissenschaft schwärmt derzeit vom Schwarm. Was früher "Netzwerk" hieß, heißt in einigen Disziplinen nur noch "Schwarm". Galt die Schwärmerei früher, in Erinnerung an Wiedertäufer und ähnliche aufgeregte Sekten, als blindes Vorsichhintorkeln, so wird sie heute als Ausdruck höchster natürlicher Gesetzmäßigkeit und Disziplin gefeiert. In den Unterwassersendungen des Fernsehens kann man regelmäßig gewaltige Sardellen- oder Heringsschwärme bewundern, die sich mit der Grazie und Präzision von Ausdruckstänzerinnen bewegen und sich auch durch wüsteste Freßangriffe seitens Haien oder Delphinen nicht aus der Ordnung bringen lassen.
"Schwarmverhalten", "Schwarmintelligenz" – solche Wörter machen heute im Nu Drittmittel locker, lassen in staunenswerter Kürze neue Forschungszweige und Forschungsinstitute entstehen. Das derzeitige rätselhafte Verschwinden vieler Zuchtbienen in den USA, der unheimliche Zerfall ganzer großer Schwarmvölker über Nacht hat die Forschungsintensität zusätzlich angefacht. Hier und da ist sie schon in Hysterie umgeschlagen. Die "Entschlüsselung der Schwarmcodes" wird inzwischen zur Überlebensfrage für die Menschheit hochstilisiert.
Die Generaldevise der Schwarmforschung steht quer zum sonst herrschenden Individualismus und zum üblichen Selbstverwirklichungspathos. Sie lautet: Der Einzelne ist nichts, das Volk ist alles. Das Individuum im Schwarm hat nicht nur sein eigenes bißchen Leben jederzeit voll und ganz zur Verfügung zu stellen, es hat – bei Lichte und von außen betrachtet – gar kein Eigenleben, es ist Moment des Schwarms und sonst nichts. Einzig das Volk, dem es angehört, ist intelligent, flexibel, einfallsreich, das Individuum ist horizontlos, stur, reagiert lediglich auf einige wenige Sinnenreize, die ihm der Schwarm in den Futtertrog wirft.
Man betrachte den normalen Arbeitsalltag eines beliebigen Schwarmvolks, etwa der Blattschneiderameisen! Was man sieht, ist an Sorgfalt und Raffinesse jeder menschlichen Sozietät ebenbürtig, übertrifft sie teilweise sogar noch. Die Tiere leben bekanntlich von Pilzkulturen, die sie in ihren Nestern züchten, und sie stellen diese Kulturen her, indem sie ausziehen, um saftige Blätter von den Bäumen abzuschneiden, sie zu zerteilen und zu verkäsen, damit die Pilze auf ihnen wachsen.
Die Arbeiterzüge, die – jede Ameise trägt ein Blattfragment – in langen Reihen vom Baum ins Nest ziehen, werden von Soldaten geschützt, die höchste militärische Technik ausgebildet haben. Es gibt Unteroffiziere, Kommandochefs und strategisch optimal positionierte Beobachtungsposten, welche das – ja nur in Streifen auf den Urwaldboden fallende – Sonnenlicht mittels besonders glatter, spiegelähnlicher Blätter reflektieren, um den Transportzügen ihren Weg zu weisen.
Und so geht es weiter, es wimmelt von technischen Tricks und Einfällen, eine Kulturleistung folgt auf die andere, aber das einzelne Individuum hat davon nicht die mindeste Ahnung, geschweige denn einen Begriff. Es nimmt nur einige Lichtreflexe und Geruchspartikel wahr und ist offenbar glücklich dabei, sich auf deren Spur zu setzen. Die "Intelligenz" bleibt, wie gesagt, dem Volk, dem Schwarm, vorbehalten, es ist eine "kollektive Intelligenz", die keine materielle, neuronale Unterlage hat, sondern "nur" ein situatives Organisationsschema, ein Design, einen das Ganze, den Schwarm betreffenden Zweck (Telos).
Unser menschliches Gehirn, sagen einige Forscher, sei im Grunde "nichts als" ein Bienen- oder Ameisenschwarm, wo die Neuronen, die Nervenzellen und zugehörigen Schaltstellen (Synapsen), die Rolle der einzelnen Bienen oder Ameisen spielen. Der Mensch sei also von Haus aus kein Individuum, sondern eine überindividuelle Ganzheit, mit unzähligen Schaltstellen nach unten, aber auch nach oben zu noch höheren, überlegenen Entitäten.
Keine Rede könne davon sein, daß unser Wollen und unsere Entscheidungen, wie eine einflußreiche Fraktion von Gehirnforschern glauben machen will, neuronal gelenkt und vorherbestimmt werde, im Gegenteil: Unser Entscheidungswille sei es, der den Neuronen und Synapsen die Reaktionsweisen vorschreibt, wie seinerseits das Gehirn, unser "Schwarm" also, abhängig sei von höheren sozialen und transzendentalen Ordnungsinstanzen, auf die wir uns einstellen müssen.
Wenn unsere Willensfreiheit von irgendwem bedrängt wird, so gewiß nicht von irgendwelchen Neuronenbewegungen und Synapsensprüngen, sondern eben von Vorgängen in höheren Ganzheiten, von denen wir unsererseits bloße Momente sind. Aber nicht immer findet die Anpassung an jene Vorgänge hochbewußt statt; die Wissenschaft ist gerade dabei, unser spontanes, unwillkürliches Schwarmverhalten zu erforschen.
Auf gewisse Verkehrsverhältnisse mit vielen beteiligten Einzelpersonen etwa reagieren wir spontan, ohne extra darüber nachzudenken, und die Regeln dieser spontanen Anpassung können fixiert und im Computer simuliert werden. Auch Universitätsseminare, Arbeitsgruppen im Labor und andere Lernkollektive entfalten ihre eigenen Regeln, an die sich der einzelne anpaßt; kollektives Lernen ist nicht dasselbe wie Lernen im eigenen abgeschotteten Gehäuse.
In den Computernetzwerken der Informatiker wimmelt es mittlerweile schon von virtuellen Ameisen und künstlichen Licht- und Duftsignalen, mittels derer spontanes menschliches Schwarmverhalten erkundet werden soll. Auch sind halbverrückte SF-Autoren unterwegs, die Horrorszenarios von auf Nano-Dimension verkleinerten Robotern entwerfen, welche sich zu menschenfeindlichen Terrorschwärmen zusammengeschlossen haben. Schwärme der Angst!
Demgegenüber bliebe festzuhalten: Gerade Schwärme müssen immer kühlen Kopf behalten. Wer blindlings einer Duftspur folgt, ohne nachzudenken, ist kein Schwarm, sondern nur eine dumme kleine Einzelameise.