Die Hadassah-Klinik in Jerusalem steht seit dem 4. Januar im Zentrum des weltweiten Interesses. Ariel Scharon, der einst als „rechter Hardliner“ verhaßte (und seit dem israelischen Rückzug aus dem Gaza-Streifen selbst von einstigen Gegnern hochgeschätzte) Kriegsheld und Ministerpräsident, kämpft um sein Leben. Und die schweren Gehirnblutungen, die der 77jährige „Löwe Gottes“ (so die Übersetzung seines Vornamens) erlitten hat, lassen eine Rückkehr ins Amt nicht zu. Für seine Nachfolger – seine neugegründete Partei Kadima („Vorwärts“) bemüht sich, ein Führungsteam zu bilden – steht eine Palette dramatischer Probleme an, die dringend einer Antwort bedürfen. Der zu einer „Vaterfigur“ (Spiegel) gewordene Mann hatte diese Antworten – nach Meinung der Mehrheit der Israelis – parat. Ganz oben auf der Liste steht die Bedrohung durch iranische Nuklearwaffen. Nur wenige zweifelten daran, daß Scharon, dessen Lebensinhalt die Erhaltung und Sicherung des jüdischen Lebens und des Staates Israel war, einen Schlag gegen die iranischen Atomanlagen angeordnet hätte. Es gab sogar Spekulationen, daß er dies kurz vor dem Wahltag am 28. März ausführen wollte. Der wichtigste israelische Verbündete, die USA, sitzt im Irak fest. Die EU-Troika verhandelt seit zwei Jahren ergebnislos mit der iranischen Führung über ein Ende des Teheraner Atomwaffenprogramms. Daher sieht die israelische Führung keine andere Option, als den Drohungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, Israel auszuradieren, zuvorzukommen. Die zweite Bedrohung kommt von den Palästinensern. Deren Präsident Mahmud Abbas scheint außerstande, die fortschreitende Anarchie in Gaza und die Umwandlung des Gebiets in eine weitere Basis des internationalen Terrors aufzuhalten. Der scheinbar unaufhaltsame Siegesmarsch der Hamas läßt über den Wahlen in den Palästinensergebieten am 25. Januar ein blutiges Fragezeichen schweben: Wie stark wird dabei diese arabisch-islamistische Organisation, die bislang „erfolgreich“ Sozialarbeit und blutigsten Terror kombiniert hat und weiterhin offen am Endziel der Zerschlagung des Judenstaates festhält? Angesichts dieser Bedrohung ist der weitere Ausbau des umstrittenen Trennungszaunes ein Imperativ. Eine dritte Bedrohung ist die Führungskrise in Syrien, wo sich Auflösungserscheinungen innerhalb des Assad-Regimes zeigen – mit unabsehbaren Folgen (JF 52/05). Hinzu kommt die große Aufgabe der Konsolidierung der Wirtschaft, denn dem riesigen Druck, dem Israel zur Zeit ausgesetzt ist, kann es nicht aus einer Position der ökonomischen Schwäche standhalten. Ariel Scharon ist im November aus dem von ihm 1973 gegründeten konservativen Likud-Block ausgetreten und hat die Kadima gegründet – für Außenstehende ein unverständlicher Schritt. Aber in Israel sind die Parteigrenzen durchlässiger als in anderen Demokratien. Die beiden nennenswerten Gegner von Scharons Kadima, der übriggebliebene „rechte“ Likud und die Arbeitspartei, bieten den Israelis unrealistische Lösungen an. Der Likud unter Ex-Premier Benjamin Netanjahu hofft, durch eine knallharte politische Linie den Palästinensern Konzessionen abzuringen – angesichts der jüngsten Entwicklungen im palästinensischen Lager (Aufstieg der Hamas) eine völlige Illusion. Und die traditionsreiche Arbeitspartei strebt unter ihrem neuen Chef Amir Peretz nach links. Peretz hofft, durch Zugeständnisse zu einer friedlichen Lösung zu kommen – und verschließt dabei die Augen vor der gewandelten palästinensischen Realität. Obendrein ist der Ex-Gewerkschaftsführer Peretz ein in Marokko geborener sephardischer Jude, was ihm die Chance, die Regierungsführung über die Wahlurne zu gewinnen, praktisch verschließt. Zwischen diesen beiden Positionen eröffnen sich Kadima die Chancen für einen Wahlsieg. Selbst wenn Scharon den Wahltag nicht mehr erleben sollte, würden laut aktuellen Umfragen bis zu 40 Prozent ihm zuliebe die Partei Kadima wählen. Anführen wird die Kadima-Partei sein bisheriger Vize, der amtierende Ministerpräsident Ehud Olmert, ohne Zweifel der erfahrenste Kandidat für diesen Posten. Einst war er ein Rivale Scharons im Ringen um die Führung im Likud, dann Knesset-Abgeordneter und Minister, schließlich langjähriger Bürgermeister von Jerusalem. Der 60jährige erfreut sich auch der nicht unbedeutenden Unterstützung des 82jährigen Ex-Premiers Schimon Peres, der wie Scharon seine jahrzehntelange politische Heimat, die Arbeitspartei, verlassen und sich der Kadima angeschlossen hat. Auch Verteidigungsminister Schaul Mofaz, ein im Iran geborener sephardischer Jude, hat Ambitionen auf das politische Erbe Scharons angemeldet. Israelischen Kommentatoren zufolge hat der 57jährige ehemalige Generalstabschef seine Chancen aber schon verspielt, als er öffentlich über die Möglichkeit nachdachte, die Hamas in die Friedensverhandlungen einzubeziehen. Die wahrscheinlich talentierteste Figur unter den möglichen Kandidaten auf das Amt des Ministerpräsidenten ist Justizministerin Tzipi (Tzipora) Livni. Wie Scharon, Netanjahu oder Ex-Premier Menachem Begin kommt die 47jährige aus einer der Gründerfamilien Israels: Ihr Vater war ein Kämpfer der Untergrundorganisation Irgun Zwi Leumi. Ihr politisches Konzept hat sie folgendermaßen zusammengefaßt: „Das jüdische Volk hat ein nationales und historisches Recht auf das Land Israel; aber um eine jüdische Mehrheit in einem demokratischen jüdischen Staat zu sichern, müssen wir Teile des Landes Israel aufgeben.“ Unausgesprochen meinte sie damit auch Scharons Endkonzept für sein Lebenswerk: die einseitige Festlegung der endgültigen Grenzen Israels. Foto: Ariel Scharon: Nun selbst von einstigen Gegnern hochgeschätzt