Anzeige
Anzeige

Mörderisches Chaos

Mörderisches Chaos

Mörderisches Chaos

 

Mörderisches Chaos

Anzeige

Die erste Begegnung mit Edwin Erich Dwingers Büchern fand vor einem Vierteljahrhundert, nur wenige Tage nach dem Tod des Schriftstellers, in einem Frankfurter Antiquariat statt. Auf einem Büchertisch vor dem Schaufenster lagen die Originalausgaben von „Wir rufen Deutschland“ und „Die letzten Reiter“. Damit endete nicht nur die bis dahin aussichtslose Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für einen guten Freund, es begann auch das eigene Interesse an dem Werk dieses Autors, der zu den bekanntesten Schriftstellern der Weimarer Republik zählte, während der NS-Zeit zum Reichskultursenator und SS-Obersturmbannführer in einer Reiterstandarte ernannt wurde und 1941 als Kriegsberichterstatter bei einer Panzerdivision in der Sowjetunion den Rußlandfeldzug mitmachte. Prägend für den jungen Dwinger war jedoch der Erste Weltkrieg. Der knapp Siebzehnjährige meldet sich freiwillig zur Kavallerie und wird nach einem nur wenige Wochen dauernden Einsatz an der Ostfront schwer verwundet. Zu allem Unglück gerät der Fähnrich auch noch in russische Kriegsgefangenschaft. Dwinger sieht seine Kameraden verhungern oder an Seuchen elend krepieren und plant seine Flucht aus dem Todeslager. Nach zwei langen Jahren gelingt es ihm tatsächlich zu entkommen, doch nun nehmen ihn die „Weißen“ gefangen, die in einem schon verlorenen, aber immer noch äußerst blutigen Bürgerkrieg gegen die „Roten“ stehen. Beide Seiten, die „Weißen“ des Admirals Koltschak und des Generals Denikin, die das alte christlich-orthodoxe, bäuerliche und zaristische Rußland repräsentieren, und die „Roten“, Lenins und Trotzkis Revolutionsgarden, kämpfen mit gnadenloser Härte. Doch anstatt dem Kleinkrieg der von Trotzki mit ideologischer Strenge zur „Roten Armee“ zusammengeschweißten Partisanenabteilungen mit der gleichen Strategie und Taktik zu begegnen, versuchen die „Weißen“ immer wieder erfolglos, dem erbarmungslosen Feind einen regelrechten Front- und Stellungskrieg aufzuzwingen, und scheitern schließlich nach der Gefangennahme und Erschießung Koltschaks in Irkutsk auf ganzer Linie. An die stolzen Ziele glaubt er bald nicht mehr Seine Erlebnisse im Gefangenenlager verarbeitet Dwinger in dem Buch „Armee hinter Stacheldraht. Das sibirische Tagebuch“ (1929), dem ersten Teil der Roman-Trilogie „Die deutsche Passion“. Im zweiten Band schildert er die Erfahrungen des russischen Bürgerkrieges: „Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie 1919-1920“ (1930). Es ist ein mörderisches Chaos aus Verrat, Blut und Tod, in das der deutsche Fähnrich Benjamin (Dwingers Alter ego) hineingeschleudert wird. An die stolzen und idealistischen Ziele des weißen Russentums vermag er schon bald nicht mehr zu glauben: „Nein, dieser Krieg ist kein Krieg mehr, ist eine Mörderei in Massen, eine sadistische Orgie, ein Rückfall in Urzeiten. Ich habe die Weißen verachtet, als ich ihre Taten sah, ich kann es nicht mehr. Ich verstehe sie jetzt. Wer aber hat begonnen? Wen trifft die Schuld mit ihrer ganzen Wucht? Keinen oder beide. Wer will hier richten? Ich stehe mittendrin und kann es nicht …“ Nach dem endgültigen Sieg von Trotzkis „Roter Armee“ über die „Weißen“ gerät Dwinger erneut in Haft. Doch wieder gelingt ihm die Flucht. Über die Mongolei kommt er schließlich auf abenteuerlichen Wegen nach Ostpreußen, wo er zunächst als Gutsverwalter tätig ist, und schließlich nach Tanneck im Allgäu. Hier läßt er sich als Landwirt nieder und schreibt den letzten Teil der Trilogie: „Wir rufen Deutschland. Heimkehr und Vermächtnis. 1921-1924“ (1932). Leutnant Benjamin und seine Kameraden, die das russische Drama, Kriegsgefangenschaft und Bürgerkrieg, gerade hinter sich gelassen haben, werden mitten in die deutsche Tragödie hineingeschleudert. Auf den großen Rittergütern in Ostpreußen kommen sie alle zusammen: die alten Baltikumer, die Kapp-Leute, Oberländer und Roßbacher und die ehemaligen Kriegsgefangenen aus Rußland, um die polnischen Insurgenten an allen Fronten anzugreifen. Schon bald ist der oberschlesische Annaberg wieder in deutscher Hand. Doch zu gleicher Zeit marschiert in Berlin der Spartakusbund und beherrscht die Straßen mit seinem Terror, in Mitteldeutschland zerstört Max Hölz mit seiner „Roten Armee“ Rathäuser und Fabriken, und auf der Golzheimer Heide wird Leutnant Schlageter von der französischen Besatzungsarmee hingerichtet. Deutschland versinkt zusehends in Dekadenz und Morschheit. „Der Kapitalismus hat seine Mission erfüllt“, schreibt Dwinger in „Wir rufen Deutschland“. Während der Dollar auf hundertdreißig Milliarden Reichsmark steigt, eröffnet der Mittelstand Straßenstände, um zu überleben, und die hungernden Massen plündern die letzten Lebensmittelgeschäfte. Für die Weimarer Republik hat Dwinger keinerlei Sympathie, und den Parlamentarismus betrachtet er – wie viele andere rechte Intellektuelle, die sich der Konservativen Revolution zugehörig fühlen – mit äußerstem Mißtrauen. Die bürgerlich-kapitalistische Ordnung muß aus den Angeln gehoben werden, um auf ihren Trümmern ein Deutschland nach dem Geschmack der Nationalrevolutionäre zu errichten: eine egalitär-elitäre Volksgemeinschaft mit preußischer Staatstradition, organischem Autoritätsprinzip und einem „deutschen“ Antikapitalismus. Die „nationale Revolution“ machen indes andere. Vom Rassismus der Nationalsozialisten abgestoßen, läßt sich Dwinger dennoch von den neuen Machthabern hofieren. Seine Bücher erreichen hohe Auflagen. 1935 erscheint „Die letzten Reiter“, in dem er die Kämpfe der Freikorpsmänner im Baltikum schildert. „Und Gott schweigt“, ein Jahr später veröffentlicht, beschreibt die Erlebnisse eines 1933 in die Sowjetunion geflohenen Kommunisten, dem der stalinistische Terror jedoch die Augen öffnet. Dwinger ist inzwischen Mitglied in der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste und Reichkultursenator. Doch der Schriftsteller ist auch Soldat. Auf seiten der Truppen General Francos nimmt er am Spanischen Bürgerkrieg teil. Über die gnadenlosen Schlachten zwischen den linken Verteidigern der Republik und den aufständischen Falangisten und Monarchisten berichtet er in seinem Buch „Spanische Silhouetten“ (1937). Dwinger war nicht der Typ des Befehlsempfängers 1941 nimmt Dwinger als Kriegsberichterstatter bei einer Panzerdivision am Rußlandfeldzug teil. Zwar hat der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, ihn als seinen persönlichen Ost-Referenten mit umfassenden Vollmachten ausgestattet, doch der als Sohn einer Russin und eines technischen Offiziers der Kaiserlichen Kriegsmarine am 23. April 1898 in Kiel geborene Dwinger ist nicht der Typ des subalternen Befehlsempfängers. Antikommunist durch und durch, lehnt er jedoch die rassistische, nationalsozialistische Ostpolitik, die in den Slawen nur „Untermenschen“ sah, aus tiefstem Herzen ab. Seine guten Beziehungen zu General Wlassow und seine Sympathie für die um ihre Freiheit vom bolschewistischen Joch kämpfenden Völker des russischen Riesenreiches machen ihn in den Augen der nationalsozialistischen Machthaber höchst verdächtig. Unter Hausarrest gestellt, beschreibt er seine Eindrücke vom Krieg im Osten in dem Roman „Wiedersehen mit Rußland. Tagebuch vom Ostfeldzug“ (1942). Nach Kriegsende läßt Dwinger sich als Gutsbesitzer in Hedwigshof bei Seeg im Allgäu nieder. Seine Bücher über den Untergang Ostpreußens („Wenn die Dämme brechen“, 1950), den feigen Verrat an den Kosaken („Sie suchten die Freiheit – Schicksalsweg eines Reitervolkes“, 1952) und der Zukunftsroman über einen atomaren Weltkrieg („Es geschah im Jahre 1965“) erzielen noch einmal hohe Auflagen. 1966 erscheint seine Autobiographie „Die zwölf Gespräche. 1933-1945“, in der er sich als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus darstellt. In der Tat hat Dwinger sich nie als Nationalsozialist, sondern als revolutionärer Nationalist und Antikommunist verstanden. Und immerhin hat ihm selbst die Spruchkammer in seinem Entnazifizierungsverfahren „großen Mut“ attestiert: Mit seinem offenen Widerspruch gegen die NS-Ostpolitik sei er „an die Grenze des Möglichen“ gegangen. Am 17. Dezember 1981 ist Edwin Erich Dwinger im Alter von 83 Jahren in Gmund am Tegernsee verstorben. Propagandist Der vor sechzig Jahren verstorbene britische Science-Fiction-Autor H.G. Wells kann als Propagandist der modernen Welt gelten. Zur Aktualität seines Werkes schreibt der Göttinger Literaturprofessor Heinz-Joachim Müllenbrock in der nächsten JF-Ausgabe 52/06. Foto: Edwin Erich Dwinger: Vor der alliierten Spruchkammer in Füssen im Allgäu wird der Schriftsteller am 28. Juli 1948 als NS-Mitläufer eingestuft und zu einer Sühnezahlung von 1.500 Mark verurteilt

Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag

ähnliche Themen
Hierfür wurden keine ähnlichen Themen gefunden.