Daß es in der muslimischen Welt zu gewalttätigen Reaktionen auf die Karikaturen des Propheten Mohammed kam, die zunächst in einer dänischen, dann in verschiedenen westlichen Zeitungen erschienen, war zweifelsohne vorhersehbar. Muslime sind extrem empfindlich gegenüber jeglicher bildlichen Darstellung ihres Propheten, um so mehr wenn es sich um Satire oder Spötterei handelt. Freilich geben diese Reaktionen, die in den letzten Tagen immer weiter eskaliert sind, in vielerlei Hinsicht zu denken. Als erstes mag man sich fragen, warum die Lawine erst jetzt ins Rollen gekommen ist. Die umstrittenen Zeichnungen erschienen bereits am 30. September letzten Jahres in der Jyllands-Posten, einer der größten dänischen Tageszeitungen. Die Reihe trug den Titel „Die zwölf Gesichter des Mohammed“. Nach eigenem Bekunden wollte die Zeitung damit die „Selbstzensur“ einer Anzahl dänischer Zeichner kommentieren, die sich geweigert hatten, ein Buch von Kåre Bluitgen über den Koran und das Leben des Propheten Mohammed („Koranen og profeten Muhammeds liv“) zu kommentieren. Damals sorgte die Affäre lediglich in Dänemark für Wirbel in Form eines Protests von Botschaftern islamischer Länder. Ihr erneutes Aufflackern im vergangenen Monat veranlaßte die Herausgeber der Jyllands-Posten dazu, den gekränkten Muslimen am 30. Januar eine „Entschuldigung“ anzubieten. Was ist zwischen September und Januar geschehen? Ein Ereignis springt ins Auge: der Sieg der Hamas bei den palästinensischen Wahlen. In der Folge begann eine regelrechte Kampagne, um die EU davon abzubringen, die Palästinensische Autonomiebehörde weiterhin finanziell zu unterstützen. Sind die Bilder von palästinensischen Massendemonstrationen gegen die „Gotteslästerung“, die nun über die Bildschirme laufen, nachdem die öffentliche Meinung in den arabischen Staaten mittels der dänischen Karikaturen gegen Europa aufgebracht wurde, nicht geeignet, die Europäer zu der Auffassung zu bringen, daß es durchaus richtig sei, solchen Menschen die Mittel zu streichen? Die Frage ist nicht unberechtigt. Angesichts der islamischen Proteste haben die meisten europäischen Staaten die „Meinungsfreiheit“ hochgehalten (in den USA ebenso wie in Großbritannien hielt man ihre Veröffentlichung für wenig angemessen). Dies wirft eine Reihe anderer Fragestellungen auf. Gewiß ist Rede- und Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Doch bedeutet jede Freiheit zugleich eine Verantwortung. „Furchtbar ist eine Freiheit, die keine Pflicht mehr steuert“, glaubte der französische Schriftsteller André Gide. Trotzdem versteht es sich von selbst, daß Redefreiheit sich nicht teilen läßt – sie gilt oder sie gilt nicht. Ebenso unstrittig ist, daß das Recht auf freie Meinungsäußerung niemals zuvorderst dazu da ist, gefällige, allgemein geteilte Meinungen zu schützen, sondern gerade die unbequemsten, anstößigsten, schockierendsten. Mit anderen Worten, wer das „Recht auf Gotteslästerung“ gewährt, muß zugleich seine unumschränkte Gültigkeit gewährleisten. Nun herrschte in Europa niemals totale Redefreiheit. Noch heute sind gewisse Aussagen und Meinungen aus guten oder weniger guten Gründen gesetzlich verboten, und ihre Urheber können gerichtlich belangt werden. Deutschland etwa hat einen „Index“. Wären jene, die es für völlig normal halten, daß in einem „freien Staat“ antimuslimische Karikaturen erscheinen, ebenso bereit, die Veröffentlichung antisemitischer Karikaturen hinzunehmen? Würden diejenigen, die sich über Abbildungen Mohammeds in zweideutigen oder grotesken Stellungen amüsieren, die weltweite Verbreitung pornographischer Bilder von Anne Frank genauso witzig finden? Natürlich nicht. Europäische Staaten haben Gesetze gegen Antisemitismus, während Islamophobie nirgends bestraft wird. Aus Sicht vieler Muslime wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Daß westliche Menschen Gotteslästerung als unbedeutende Petitesse empfinden: Liegt dies nicht vor allem daran, daß sie selber den Sinn für das Heilige verloren haben? Daß sie selber an gar nichts mehr glauben? Vor nicht allzu langer Zeit standen in vielen europäischen Staaten auf Gotteslästerung schwere Strafen. Früher galten auch den Europäern gewisse Dinge als unerträglich und gewisse Worte als unsagbar. Haltungen, die ihren Vorfahren selbstverständlich waren, stigmatisieren sie heutzutage als „Fanatismus“. Der aus Polen stammende Soziologe Zygmunt Bauman hat jüngst hingewiesen auf „die Schnelligkeit, mit der der Wille, sein Leben für eine Sache zu opfern, als Symptom von religiösem Fanatismus, kultureller Rückständigkeit oder Barbarei verurteilt wird, und zwar von Ländern, die viele Jahrhunderte lang das Martyrium-für-einen-höheren-Zweck als Beweis der Heiligkeit ansahen“. Manchmal verbirgt sich Gleichgültigkeit hinter der Maske der Redefreiheit. In den Staaten des Westens steht das Recht auf freie Meinungsäußerung am Ende eines Jahrhunderte währenden Kampfes. Durchsetzen konnte es sich erst, nachdem die Gesellschaft vollständig „entzaubert“ war (Max Weber). Die Muslime haben noch einen langen Weg vor sich, um an diesem Punkt anzulangen. Es zwingt sich die Schlußfolgerung auf, daß die unterschiedlichen Völker der Welt derzeit nicht im selben geschichtlichen Moment leben. Alain de Benoist , französischer Philosoph, ist Herausgeber von „Eléments“ sowie Chefredakteur von „Nouvelle Ecole“ und „Krisis“. Große Moschee in Lyon: Strenggläubige Muslime lehnen jede bildliche Darstellung ihres Propheten ab foto: picture-alliance / GODONG