Manchmal ist ein Wort vonnöten, / Oft ist’s besser, daß man schweigt“, empfiehlt der Goethe des „West-Östlichen Divan“. Er bezog sich mehr auf die privaten Stimmungen des Liebenden, aber gerade weil ihm die Diskussionen nach dem Sturz Napoleons mißfielen, sucht er einen Ausweg ins Schweigen, zog er sich in östliche Bereiche der Poesie zurück. Nach all dem sittlichen, politisch bewirkten Durcheinander von Unrecht und Recht, was jeden, auch den Unschuldigen zwischen 1789 und 1815 unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen hatte, hielt Goethe es für heilsam, das Vergangene nicht zu beschweigen, es aber auch nicht wieder und wieder zu beschwören. Der ehemalige Kollaborateur mit den Franzosen und Bewunderer des Tyrannen, wie Napoleon seit 1815 genannt wurde, hielt nicht viel von wechselseitigen Schuldzuweisungen, in unübersichtlichen Zeiten versagt zu haben. Denn im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, die über ihre Schwächen mit der Zeit zusammenhängen. Wer sich davon frei halten konnte, hat freilich auch wenig Freude daran. Daß einer schuldlos durch das Leben, durch die Welt als Geschichte wandeln könnte, darin vermutete der Kenner des menschlichen Herzens und der Geschichte einen törichten Wahn, der fürchterliche Folgen für das Zusammenleben zeitigen würde. Gerade um gesellige Bildung nicht gänzlich zu vernichten, hielt er es für geboten, sich nicht moralisch eifernd die Kleider vom Leibe zu reißen, sondern aus Höflichkeit Schweigen über manches zu wahren, was allein das Leben in der Gesellschaft erträglich macht. Die parteilichen Wünsche mit ihrem Zweck, dem anderen weh zu tun, sollten doch vor der geselligen Schonung zurückweichen, die oft mehr hilft als eine wohlgemeinte, aber rohe Hilfe. Napoleon hatte ihm 1808 in Erfurt gesagt: Die Politik ist das Schicksal. Goethe merkte sich das. „Hüten wir uns aber mit unseren neuesten Literatoren zu sagen, die Politik sei die Poesie, oder sei für den Poeten ein passender Gegenstand.“ Goethe hatte mit solchen Aufforderungen schon damals wenig Erfolg. Ehemalige Jakobiner warfen ehemaligen Jakobinern vor, Jakobiner gewesen zu sein. Überall erforschten Mitläufer die Tugend anderer Mitläufer, die ihrem Karrierebewußtsein jetzt im Wege standen. Es wurde ununterbrochen von Schuld, Moral und Anstand gesprochen, vor allem von denen, die es wiederum geschafft hatten. Der große Liberale Benjamin Constant wandelte sich nach Napoleons Niederlage 1815 bei Waterloo sofort zum klassischen Liberalen und bis heute bewunderten französischen Verfassungspatrioten. Es gab Lexika der Wetterfähnchen, der Ehrgeizigen, die sich – der berühmteste unter ihnen Talleyrand – geschickt während sämtlicher Metamorphosen der Gesellschaft zurechtfanden. Benjamin Constant hatte drei Fähnchen, das schadete seiner moralischen Autorität überhaupt nicht. Schließlich erhielt der politische Virtuose Talleyrand zwölf. Seine Geschicklichkeit bestätigte ihn als großen Ethiker der Legitimität, der sich nur um eines sorgte, einer sittlichen Weltordnung Dauer zu verleihen. Er hatte doch immer nur Schlimmeres oder Schlimmstes verhüten wollen! Es ist unnötig, die Parallelen zu 1945 und zur Bundesrepublik unter Konrad Adenauer noch weiter zu verfolgen. Immerhin galt doch seit 1945 der Grundsatz, daß wer schweigt, zustimmt und sich damit schuldig macht, wenn er nicht sofort bei bedenklichen Vorhaben oder Entwicklungen, protestiert, sich zu Wort meldet und aktiv wird, um den Anfängen zu wehren. Der jetzt wegen des Verschweigens seiner Waffen-SS-Zugehörigkeit in der Kritik stehende Schriftsteller Günter Grass (78) hielt sich seit Beginn der BRD an dieses Postulat, er begriff sich als das, zu dem wir alle werden sollten: als wehrhafter Demokrat, wachsam, aufmerksam und bereit, andere ins öffentliche Gespräch hineinzuziehen oder wie vor ein Tribunal zu bringen, um Verstockte und Irrende zu läutern oder gegebenenfalls um ihren schädlichen Einfluß zu bringen. In Zeiten, die Bekenntnisse erwarteten, bekannte er seine jugendlichen Verirrungen und erkannte darin so etwas wie eine politisch-theologische Erbsünde, die Verführbarkeit zum Bösen, die allen Deutschen anhaftet. Als früh Verführter fühlte er sich verpflichtet, sich nicht mit Fortwucherungen nationalsozialistischen Ungeistes abzufinden oder mit möglicherweise undemokratischen Zeiterscheinungen. Wer, wenn nicht ein ehedem begeisterter Nationalsozialist konnte als Geläuterter zu Schwankenden oder Unpolitischen reden und sie bilden oder aufklären? Das leuchtete unmittelbar ein. Zuweilen jedoch gab der ausdrucksfreudige Grass seinem Temperament allzu sehr nach und ließ die Abgewogenheit des Urteils – im bundesrepublikanischen Diskurs unentbehrlich – vermissen. Doch das waren Einwände von tantenhaften Bedenkenträgern, meist aus der CDU/CSU, die freilich für geistige Bequemlichkeit bekannt war und ist. Feuilletonisten, Kulturbetriebsräte und Öffentlichkeitsarbeiter aller Art machten Grass zu einem Émile Zola der Bundesrepublik. Die BRD, ganz dem 19. Jahrhundert verhaftet, brauchte, damit sie eine perfekte Republik sein kann, den Intellektuellen, der sie kritisiert, der sie tadelt aus Liebe zur Republik schlechthin und zu dieser deutschen ganz besonders. Günter Grass ließ sich darauf ein, zumal er tatsächlich als Idealist der „Stunde Null“ auf eine „Wandlung“ , wie eine Zeitschrift damals hieß, vergeblich gewartet hatte und enttäuscht war von der Bundesrepublik, wie sie sich entwickelte. Er maß die unzulängliche Gegenwart am zeitlosen Ideal. Damit bestätigte er sich als guter Deutscher. Der praktische Menschenverstand wirkt hier meist banalisierend im Lande des gehobenen Bierernstes. Da muß schon einmal die Wahrheit ungeschminkt gesagt werden, auch Unerzogenheit oder Taktlosigkeit dürfen dabei keinen schrecken, eben um den Philister in seiner Ruhe aufschrecken zu können. Zur Irritation der BRD’ler, die in Konrad Adenauer den größten Deutschen und in der Bundesrepublik die Erlösung von ihrer Geschichte durch den Erlöser Adenauer feiern, hält Grass daran fest, daß dieses Adenauer-Deutschland eine finstere Zeit öffentlicher Lüge und Geistesabwesenheit gewesen sei. Der ehemalige selbstbewußte Proletarier hat sich ein Mißtrauen gegen die Bourgeoisie bewahrt und eine Abneigung gegen post-bürgerlichen Schnickschnack. Damit macht er sich in neoliberalen Epochen, die auf der Suche nach neuer Bürgerlichkeit sind, unmöglich. Die Neoliberalen lesen nur Bücher, die sie selber geschrieben haben. So können sie nicht wissen, daß ein trauriger Bürger wie der Journalist, Literaturkritiker und Buchautor Friedrich Sieburg (1893-1964), der in den Untergang des Bürgertums einwilligte, ziemlich bekümmert war über die Bonner Republik. „Die Lust am Untergang“, 1954 erschienen, ist das immer noch klügste Buch über die Unwahrhaftigkeit des gesellschaftlichen und politischen Lebens während der fünfziger Jahre. Friedrich Sieburg, der höfliche, hatte seine Schwierigkeiten mit Grass oder Enzensberger, die ihn ohnehin als faschistisches Überbleibsel denunzierten, weil er ihnen im Wege stand. Das Unbehagen der Jungen teilte er, ihm fehlte jedoch konsequente Radikalität. Er bedauerte das umsichtige Bemühen der zornigen jungen Männer, sich im System einzurichten, um ihren öffentlichen Einfluß geschickt organisieren zu können. Friedrich Sieburg vermißte in ihnen klare und energische Linke und bedauerte, nur aufgeregte Philister zu finden, Konformisten, wie man damals sagte. Für Günter Grass rächt es sich jetzt, sich allzu sehr auf die kulturbetrieblichen Mechanismen der BRD eingelassen zu haben. Er wird nicht mehr gebraucht. Kritik an Bonn, an den Fiktionen Bonner und jetzt Berliner Pseudo-Bürgerlichkeiten sind unerwünscht. Erinnerungen an Proletariat und überhaupt unterschichtenspezifische Lebensformen sind ausgesprochen uncool. Die Lebensentwürfe sind eben andere geworden, verkünden Pop-Literaten und Designer wechselnder Lifestyles. Insofern kam das Eingeständnis von Grass, in der Waffen-SS gewesen zu sein, gerade recht. Die Alten können sich moralisch enttäuscht geben, daß ihnen etwas verschwiegen wurde von einem, den sie zum Moralapostel erhoben haben. Als gäbe es ein Recht auf die totale Veröffentlichung der Existenz, ja eine Rundum-Verpflichtung zum politischen Coming-Out! Den Jüngeren aus der Generation Golf und wie sie sich sonst noch klassifizieren mögen, fällt ohnehin alles auf die Nerven, was nicht unmittelbar mit ihren Erlebnissen und Event-Verarbeitung zu tun hat. Ein Riesenrummel begleitet die Absenkung des Günter Grass ins Gedächtnisloch. Schweigen darf nicht einmal mehr die Verdrängung ins Vergessenwerden freundlich begleiten. Opportunisten betätigen sich als Erzieher: So geht es dem, der nicht die Wahrheit sagt. Dabei hat Grass nie gelogen. Unter solchen Umständen kann die Gleichgültigkeit der Jungen, weil ohne moralische Nebengeräusche, zumindest nicht durch Lärm verstörend wirken. Dennoch mag man mit Montaigne seufzen: Was sind das für Zeiten, in denen man von einem Dieb nicht einmal mehr sagen darf, daß er doch wenigstens ein schönes Bein habe? Dr. Eberhard Straub , habilitierter Historiker, war Feuilletonredakteur der FAZ und arbeitet heute als freier Publizist und Buchautor.