Das Ultimatum an den Iran, die Urananreicherung zu stoppen, ist abgelaufen, und niemand weiß, was zu tun ist. Die USA behaupten zwar, über dieses Wissen zu verfügen: Sanktionen und als Ultima ratio ein Militärschlag, sie stecken aber bis zum Hals im Irak-Sumpf und sind außerstande, ihr Konzept umzusetzen, solange das zweifelnde Europa nicht mitzieht. Und Europa hat Grund zum Zweifel! Wie einfach war die Welt noch vor vier Jahren, als George W. Bushs Lügengeschichten über irakische Massenvernichtungswaffen ausreichten, um eine „Koalition der Willigen“ zu schmieden und eine „internationale Gemeinschaft“ zu imaginieren, die in einem dezisionistischen Gewaltakt das Votum des UN-Sicherheitsrats hinwegfegte. Der US-Neocon Robert Kagan schwelgte in Omnipotenz-Phantasien: Amerika, tönte er, könne leicht auf das „Alte Europa“ verzichten! Solche Töne hört man heute kaum noch. Entspringt das besserer Einsicht oder lediglich einer machiavellistischen Wende in der US-Politik? Es gibt Gründe, im israelischen Krieg gegen den Libanon das Vorspiel für einen längst beschlossenen Angriff auf den Iran zu sehen. Die faktisch von Israel erzwungene Stationierung europäischer Friedenstruppen in Nahost – darunter aus Staaten, die den Irak-Krieg abgelehnt hatten – würde sich bei einer Eskalation der amerikanisch-iranischen Spannungen als Mobilisierung für einen Krieg erweisen, den Europa fürchtet. Ein Angriff der USA auf den Iran würde die mit Teheran verbündete Hisbollah zu Attacken auf Israel veranlassen, und Europa wäre angehalten, diesen Verstoß gegen den Waffenstillstand durch seine Soldaten „robust“ zu ahnden, womit es zur Kriegspartei würde. Ist also die Beschwörung der atomaren Gefahr vor allem die Begleitmusik zu einer amerikanisch-israelischen Verschwörung, mit der Europa unter Kuratel gestellt und den USA das arabische Öl gesichert werden soll? Gegen diese simple Interpretation spricht folgendes Szenario: Falls der Iran sich Atomwaffen beschafft, wird Ägypten, das die Hegemonie des Mullahstaats im Mittleren Osten fürchtet, nicht zögern, ihm nachzuziehen, desgleichen der Nachbar Türkei. Und warum dann nicht auch Saudi-Arabien? Oder Indonesien? Die letzten Schranken, die das Vagabundieren von Atomwaffen hemmen, würden fallen. Die Komplexität des Problems entspricht der eines dreidimensionalen Schachspiels. Denn es kommt ja noch paradoxer: Zur Zeit ist es nur eine unbewiesene Behauptung, daß der Iran tatsächlich nach Atomwaffen strebt. Und selbst dann wäre er nicht der erste Staat, der den Atomwaffensperrvertrag verletzt. Er könnte vergleichbare Gründe für Atomraketen geltend machen wie Nordkorea, das sich eine US-Intervention vom Leibe halten will; wie Pakistan, das die Überlegenheit seines Erbfeindes Indien ausbalanciert; wie Israel, dessen finale Existenzgarantie die Bombe darstellt. An iranischen Atomwaffen würde sich der aus der Roosevelt-Ära stammende, angemaßte Anspruch der USA, unliebsame Regierungen mittels Polizeiaktionen einer Bestrafung zuzuführen, definitiv brechen. Das zwischenstaatliche Recht aus einer Zeit, in der es noch keine Supermächte gab, würde rekonstruiert. Nur werden solche Argumente gar nicht berücksichtigt oder mit Schlagworten wie den „irren Mullahs“ vom Tisch gewischt, die ohne Rücksicht auf eigene Verluste zum Atomschlag bereit wären. In Wahrheit wird in den iranischen Schachzügen eine kühle Rationalität erkennbar, sogar in der obszönen Forderung des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, Israel nach Europa umzutopfen. Sie läßt sich als Antwort auf die Duldung der Politik Israels gegenüber den Palästinensern lesen, die Europa mit seinen aus der Geschichte herrührenden Verpflichtungen begründet. Dieser okzidentalen Verbindung von Politik, Moral und Geschichte setzt der Iran seine eigene Interpretation entgegen: Wenn Israels Politik als Folge eines von Deutschland verursachten Holocausts tatsächlich gerechtfertigt ist, dann ist nicht einzusehen, warum die unschuldigen Palästinenser dafür bezahlen sollen. Eine europäische Antwort, die diese Logik widerlegt, steht noch aus. Wie sollte sie auch lauten? Die Hoffnung der Europäer auf eine Verhandlungslösung gründet sich auf die erwiesene Fähigkeit des Iran, normale Kontakte zu anderen Staaten zu unterhalten. Seine Handelsbeziehungen nach China, Rußland und Europa, auch nach Deutschland, gedeihen ganz prächtig, nur nicht nach den USA, die seit dem Sturz des Schah-Regimes ihre Beziehungen auf Eis gelegt haben – eine politische Dummheit, die den Einfluß der Amerikaner reduziert. Die Kosten eines Wirtschaftsboykotts müßten von den anderen getragen werden. Daraus und vor dem Hintergrund iranischen Ölreichtums und internationalen Energiehungers ergeben sich Interessengegensätze, die dem Iran einen Freiraum eröffnen. Nur kann in der Tat niemand garantieren, daß er ihn nicht irgendwann zum Schlimmsten nutzt. Also soll man ihn militärisch zertrümmern? Die Folge wäre ein Irak-Chaos in Potenz plus weltweite Terroranschläge. Es ist wie beim dreidimensionalen Schachspiel … Das Zeitalter nach der „Pax americana“ kündigt sich an. Kein Grund zum Jubilieren!
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