Obwohl die Geschehnisse, auf denen das von Roswitha Wisniewski herausgegebene Buch basiert, mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, werfen sie ihre Schatten immer noch in die Gegenwart. Es geht nämlich um ein in der Bundesrepublik unpopuläres Thema – die Sklavenarbeit der Deutschen in sowjetischen Arbeitslagern. Wer diese Hölle überstanden hatte, flüchtete sich nach der Rückkehr des öfteren in langjähriges Schweigen, um nach durchgemachten Gulag-Greueltaten einfach weiter leben zu können. Das gilt auch für die meisten Verfasser der ungeschminkten Berichte, aus denen sich der Sammelband zusammensetzt und die sich nun allmählich zu Wort melden. Das Buch ist das Ergebnis des vom Ostdeutschen Kulturrat 2004 veranstalteten Erzählerwettbewerbs mit dem thematischen Mittelpunkt „Deportationen in sowjetische Arbeitslager“ und enthält erschütternde Zeugnisse der Leiden deutscher Zivilbevölkerung, die durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufen worden sind. Daß das Buch im Verlag Waldemar Weber erschienen ist, ist keinesfalls Zufall, streifte doch bereits das im vergangenen Jahr hier verlegte Werk „Vergessene Schicksale“ von Anton Bayr (JF 19/05) das gleiche Thema, wie schon dessen Untertitel „Überlebenskampf in sowjetischen Lagern – ein Kriegsgefangener erinnert sich“ veranschaulicht. Damit sind nun neben den Dokumentationen zu Flucht und Vertreibung aus ostdeutschen Gebieten auch die Deportationen der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion und in anderen deutschen Siedlungsgebieten jenseits der Reichsgrenzen unter Beweis gestellt worden. Die meisten Buchautoren sind Deutsche aus Rußland, darunter die 2005 mit dem literarischen Adalbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnete Eleonore Hummel. Sie repräsentieren eine Volksgruppe, in der echte poetische Talente dünn gesät sind. Künstler vom Rang eines Günter Grass wie in Danzig oder eines Horst Bienek wie im oberschlesischen Gleiwitz können sie nicht vorweisen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Zahlreiche angehende rußlanddeutsche Lyriker und Autoren sowie Vertreter der dünnen intellektuellen Schicht wurden vor und während des Zweiten Weltkrieges allein wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit durch die Sowjets vernichtet. Darüber hinaus war in der Sowjetunion der Nachkriegszeit Deutsch – die Sprache des verhaßten Feindes – anfangs in der Stalinzeit de jure und danach in der Regel de facto verboten. Es konnte nur im engeren Familienkreis und in geheimen religiösen Versammlungen gepflegt werden. „Eine Sprache bis zur Tür“, hieß es damals. Nicht zuletzt deshalb existiert die tragische Vergangenheit dieser dezimierten Volksgruppe im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik sowie in der deutschen Kunst und Kultur praktisch nicht. Um so erfreulicher, daß Herausgeberin Wisniewski eine ganze Reihe von Repräsentanten dieser bisher nahezu stummen Gemeinschaft animiert hat, zur Feder zu greifen, um auf diese Weise Flagge zu zeigen. Doch die Verschleppung, grausame Schikanierung und Zwangsarbeit betrafen keineswegs allein die Deutschen in Rußland. Gang und gäbe waren sie in allen früheren deutschen Siedlungsgebieten. Das dokumentieren die Berichte am Ende des Bandes, die den Blick des Lesers auf Rumänien und die Tschechoslowakei lenken sowie an die Elendszüge und Lager in diesen Ländern erinnern. Im Vorwort würdigt die Herausgeberin die Autoren des Bandes, die die schweren Erlebnisse niedergeschrieben und damit vor dem Vergessen bewahrt haben. „Der Dank gilt besonders den Frauen und all jenen, die Erlebnisse der Demütigung niedergeschrieben und dazu den Mut aufgebracht haben, gerade ihre verletzte Würde zum Thema zu machen“, betont Wisniewski. Ihr Buch stellt einen gewichtigen Beitrag zur Dokumentierung der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts dar. Nicht umsonst betont der Historiker Alfred Eisfeld, dessen Ausführungen in seiner kundigen und informativen Einleitung es ermöglichen, die Einzelberichte über die sowjetischen Arbeitslager in die historischen und politischen Gesamtzusammenhänge einzuordnen, den dokumentarischen Wert des Bandes. Roswitha Wisniewski (Hrsg.): Frierende Hände – erfrorene Hoffnungen. Berichte deutscher Deportierter. Waldemar-Weber-Verlag, Augsburg 2006, 208 Seiten, broschiert, Abbildungen, 19,80 Euro Foto: „Straße der Gulags“ von Teplyi Klütsch nach Topolino (Jakutien). Hier wurden Hunderte Leichname von Sowjetopfern übereinander gestapelt und einbetoniert: Unpopuläres Thema in der Bundesrepublik
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