Es ist keine vier Wochen her, da gab es für Politik und Medien kein wichtigeres Thema als unbetretbare Zonen für Ausländer und deutsche Fremdenfeindlichkeit. Die Hysteriker, wären sie fähig zur Scham und Selbstreflexion, sie müßten vor der Wirklichkeit im Boden versinken. Es herrscht eine freundliche Stimmung, die ausländischen Gäste, auch die schwarzen, fühlen sich gut aufgenommen in Deutschland, dessen Bewohner andererseits stärker als zuvor auf der Präsentation ihrer Nationalfarben und Symbole und damit auf Wir-Gefühl und Unterscheidbarkeit bestehen. Eine entspannte Dialektik wird praktiziert, wie sie sich in der Redewendung ausdrückt: Leben und leben lassen! Niemand konnte etwas anderes erwarten außer den Berufsbetroffenen, die auch jetzt nur die Anwesenheit ausländischer Gäste dazu zwingt, sich zu Hause anständig zu benehmen. Ab Mitte Juli sind wir wieder mit ihnen allein. Man möchte den WM-Gästen zurufen: Ausländer, Ihr könnt sie von uns geschenkt haben! Gewiß, Puristen und Ästheten fänden Gründe genug, sich zu mokieren: Über ein Land, daß sich einst über seine Dichter und Denker definierte und heute sein Selbstbewußtsein aus dem Fußball schöpft. Über den Versuch, ein uncharismatisches Kindsgesicht wie Michael Ballack zur nationalen Ikone aufzubauen (die Briten haben wenigstens David Beckham, die Spanier Raul Gonzales!). Mit Ortega y Gasset könnte man darüber sinnieren, wie die Inferiorität der Massen die kulturellen Standards setzt. Und natürlich ist die Fußball-WM ein gigantischer Kommerz, das Land erscheint als Firma, die Staatsflagge als ihr Logo, und überhaupt schwingt kaum Pathos, dafür viel spielerischer Unernst in all dem mit. Nun, die Zeiten haben sich geändert, sogar in Ländern, deren Geschichte weniger diskontinuierlich verlaufen ist als die deutsche. Kann man denn das Geburtstagszeremoniell für die britische Königin, das stundenlang vom deutschen Fernsehen übertragen wurde, tatsächlich ohne ironisches Augenzwinkern betrachten? Auch dort lugt der Kitsch hervor, wenn auch in dezenterer Form. Wir kennen unsere Vor-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichten, die Kräfteverhältnisse und Ressentiments und wissen, warum sich die Wiederaneignung nationaler Symbolik nur in den Ritualen der Massenkultur vollziehen kann. Unter den Fähnchenschwenkern sind durchaus erfolgreiche Existenzen, die das Nationale zum Ausgleich privater Komplexe nicht nötig haben. Auch junge Leute gehören dazu, die Auslandssemester absolvieren und deren Bekannten- und Freundeskreis vielleicht zur Hälfte aus Nichtdeutschen besteht. Gerade ihr Beispiel zeigt, daß es hier vielleicht doch um Tieferes geht als nur um Karneval. Deutschland leidet nicht nur an einem Symbolverlust, sondern dieser transportiert auch den Verlust des Symbolisierten. Nennen wir es ruhig: Nationalstolz. Diese Leerstelle wurde formal von postnationaler Rhetorik gefüllt, praktisch vom Glauben an den felsenfesten Sozialstaat, der so reich ausgestattet war, daß er aller Welt davon abgeben konnte. Dieser Umstand vermittelte den postnationalen Deutschen ein gutes Gewissen und ein Gefühl moralischer Überlegenheit, einen Ersatzstolz gewissermaßen. Nun aber, da es ernst wird mit der Globalisierung, stellt das Vokabular des Postnationalismus sich als ein ungedeckter Scheck heraus. Alles steht auf der Kippe: Arbeit, Bildung, Gesundheit, Rente, Pflege, Kinderbetreuung. An wen sich also wenden, da doch die „Weltgemeinschaft“ keine Telefonnummer und „Europa“ vorerst nur eine Postfachadresse besitzt, wenn nicht an den eigenen Staat? Von dem weiß man heute sicher, daß er die kompensatorische Funktion des Sozialen überstrapaziert hat. Junge Leute fragen sich ganz unbefangen, ob seine Unfähigkeit zu rationaler Politik nicht im Zusammenhang steht mit den symbolpolitischen Defiziten. Hinter der postnationalen Verbiesterung erkennen sie das Machtkalkül tonangebender Schichten. Die haben sich überall sonst geirrt: in Finanzen, Wirtschaft, in der Bildungs- und Ausländerpolitik – ausgerechnet in der Vergangenheitspolitik und Symbolverneinung sollen sie recht gehabt haben? Der Einwand lautet, was Ideen, Nationalstolz und Patriotismus wert sind, wenn an ihrem Ursprung das Interesse steht, das ökonomische zumal? Nun, die Ökonomie ist Teil unseres Schicksals, ein äußerst wichtiger sogar. Ideen und Ideale ohne Interessen blamieren sich schnell oder geraten ins Dumme und Dumpfe, mitunter in die Gewalt, „weil sie anders keine Kraft finden, sich durchzusetzen“ (C. Graf von Krockow). Aber wie weit trägt die aktuelle Stimmung tatsächlich? In dem kleineren, ärmeren, von Minderwertigkeitskomplexen geplagten deutschen Staat löste es ebenfalls Freude und Zustimmung aus, als er bei den Olympischen Sommerspielen 1988 in Seoul in der Länderwertung auf Rang zwei vor den USA rangierte. Wenig später war die DDR verschwunden, aufgelöst von den eigenen Bewohnern. Zweitens: Die jetzige Gefühlsaufwallung wird von den Funktionseliten als risikolos, ja als nützlich erachtet. Die Brotrationen werden kleiner, da empfiehlt sich die Ablenkung durch Spiele. Ganz nebenbei ist die größte Steuererhöhung in der bundesdeutschen Geschichte über die Bühne gegangen. Drittens ist es alles andere als sicher, daß die Energien und Emotionen, die jetzt sichtbar geworden sind, auf die Fragen nach dem kollektiven Selbstverständnis andere Antworten erzwingen als bisher: Wer bin ich? Woher komme und wohin gehe ich? Was habe ich zu erwarten? Und vor allem: Wer füllt die Begriffe über die Geschichte? Während Schwarz-Rot-Gold im Wind flattert wie noch nie, werden andernorts Fakten geschaffen, hat das neueröffnete Museum für Deutsche Geschichte in Berlin (JF 25/06), das die Stellung eines Nationalmuseums beansprucht, Reemtsmas These vom deutschen Vernichtungskrieg in den Rang einer staatlich sanktionierten Wahrheit erhoben und wird andernorts bereits daran gearbeitet, seinen Beginn vom 22. Juni 1941 auf den 1. September 1939 vorzudatieren. Viertens fiebern die Berufsbetroffenen dem Moment entgegen, da sie aus ihren Deckungsgräben hervorkriechen und wieder die Wortführung übernehmen können. Wer soll sie daran hindern, wenn die Hochstimmung erst verflogen ist?