Von der islamischen Geschichte nichts zu wissen, geht nicht an die Ehre des deutschen Bildungsbürgers. Es reicht, daß er seinen Lessing gelesen hat und davon überzeugt ist, daß der Islam durch und durch tolerant sei. Nicht selten wird solche Unkenntnis zur Tugend erklärt: Den Islam als ein in sich stimmiges Phänomen gebe es gar nicht, folglich auch keine Geschichte des Islams, sondern nur Ereignisabläufe innerhalb wie auch immer definierter „Teilislame“; die Kenntnis solcher Abläufe sei jedoch für das Verstehen der gegenwärtigen mit dieser Religion in Verbindung gebrachten Geschehnisse bestenfalls zweitrangig, da diese sich natürlich im Rahmen der „Moderne“ – Schlagwörter: Globalisierung, soziale Frage – erschöpfend erklären ließen. Gegen diese bequeme Haltung, die die Fragen zu beantworten meint, indem sie sie eliminiert, schreibt Eberhard Serauky an. Er weist darauf hin, daß die 1969 entstandene, inzwischen 52 Staaten umfassende Islamische Konferenz ausdrücklich den „gemeinsamen Glauben“ und das „gemeinsame islamische Erbe“ zur Grundlage ihrer politischen Tätigkeit bestimmt hat; 1990 führte sie in einer Verlautbarung zu den „Menschenrechten im Islam“ aus, daß die Scharia deren einzige Quelle sei. Die Scharia aber entstand in der Frühzeit des Islam; sich auf sie zu berufen, bedeutet zugleich, jene Epoche zum die Jahrhunderte überdauernden, nach wie vor gültigen Maßstab muslimischen Handelns und Denkens zu erheben – wodurch in muslimischer Sicht, die zu durchschauen doch die unabdingbare Voraussetzung für eine sachgerechte Auseinandersetzung ist, eben doch ein 14 Jahrhunderte übergreifender Sinnzusammenhang gegeben ist. Die Erinnerung an die verklärte Geschichte des Islam ist für die erdrückende Mehrheit der Muslime der Grundstein ihrer Identität in einer Welt, in der die islamischen Staaten in der Ausbildung ihrer Bevölkerung und in der Entwicklung ihrer Wirtschaft weit abgeschlagen hinter anderen Regionen rangieren. Auch der islamische Terrorismus, über den der Verfasser sich in einer anderen Studie geäußert hat, beruft sich auf die islamische Geschichte; dort findet er die Vorgänge, die er als Vorbilder für seine Verbrechen nutzen kann, um diese zu legitimieren. Da auch die zahllosen Moscheeprediger, indem sie für die uneingeschränkte Einhaltung der Scharia eintreten, eine ruhmreiche islamische Vergangenheit beschwören, deren Glanz der unbestrittenen Geltung der Scharia zu verdanken gewesen sei, lassen sich vom Standpunkt des überzeugten Muslims aus die terroristischen Aktivitäten zwar verurteilen, was auch immer wieder geschieht; der Argumentationsweise und den Rechtfertigungsmustern der Gewalttäter kann man jedoch im Grundsätz-lichen kaum beikommen. Aus diesem Sachverhalt, den Serauky am Ende seines Vorworts andeutet, ist zu folgern, daß die Beschäftigung mit der Geschichte des Islam zur Erarbeitung der Einsicht in die Gründe und Konsequenzen der muslimischen „Geschichtsversessenheit“ zu führen hat, und damit zum Verstehen einer Identität, die derjenigen des geschichtsvergessenen Deutschen geradezu diametral entgegengesetzt ist. Wer dem deutschen Publikum die Geschichte des Islam nahezubringen versucht, muß in jeder Hinsicht bei Null anfangen; nichts kann vorausgesetzt werden. Und wie sich schon nach den frühen Eroberungen der Raum dieser Geschichte von Nordafrika bis an den Indus erstreckt und sich danach noch weiter ausdehnt, so ist auch das überlieferte Quellenmaterial von einer unüberschaubaren Reichhaltigkeit. Serauky stützt sich, wie schon in der 1991 erschienenen ersten Ausgabe seines Werkes, vor allem auf im Druck vorliegende erzählende Originalquellen. Angesichts der Fülle des Stoffes setzt er notgedrungen Schwerpunkte, die plausibel gewählt sind. Fast ein Drittel des Textes widmet Serauky den ersten anderthalb Jahrhunderten. Diese Periode, die Berufung Mohammeds zum Propheten, die Hedschra, die von Medina aus geführten Kriege, die gleitend in die Eroberungszüge übergingen und die Kalifen vor die Aufgabe stellten, die fiskalische Ausbeutung der unterworfenen Länder und Völker zu organisieren – dies alles steht in der muslimischen Erinnerung für das goldene Zeitalter, das es nun zu erneuern gelte in unverbrüchlichem Gehorsam gegen das, was einst Mohammed als Gottes Wort und Wille verkündete. Natürlich übernimmt Serauky nicht die schwärmerische Sicht der heutigen Muslime, sondern beschäftigt sich eingehend auch mit den in den frühen islamischen Quellen so klar bezeugten Krisensymptomen, die einsetzten, sobald die Einkünfte aus der Kriegsbeute spärlicher flossen und die Unterworfenen zum Islam überzutreten begannen – wodurch sie im Idealfall der auf Andersgläubigen lastenden Kopf-steuer ledig wurden. Nur knapp erörtert Serauky die Jahrhunderte bis zur Neuzeit. Das islamische Indien, das Osmanische Reich und zuletzt der „islamische Modernismus“ des 19. und 20. Jahrhunderts werden etwas eingehender behandelt. Hier hätte man sich gewünscht, daß die Einsicht, die er dem Umschlag anvertraut, etwas deutlicher seinen Gang durch die Fülle der Informationen bestimmt hätte: „Die Gemeinsamkeit des Islam ergibt sich nicht nur durch die Kraft des Glaubens; vielmehr sind es eine verbindende seelische Haltung und ein spezifischer Lebensstil, die weit über die europäische Form des Religiösen in alle Bereiche des täglichen Lebens unmittelbar hineinwirken.“ Aber auch wenn Seraukys wesentliche Absicht nicht immer erkennbar bleibt, kann man zur Lektüre des Buches raten. Eberhard Serauky: Geschichte des Islam. Entstehung, Entwicklung und Wirkung. Von den Anfängen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Edition q im Quintessenz Verlag, Berlin 2003, gebunden, 488 Seiten, 29,90 Euro Prof. Dr. Tilman Nagel lehrt seit 1981 Arabistik an der Universität Göttingen. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften zum Islam.
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