Als an einem Spätsommertag des Jahres 1978 Johannes Paul II. erstmals seit seinem Pontifikat wieder seine polnischen Heimat betrat, sprach er die denkwürdigen Worte aus: Er sei der Papst jener Völker, die bisher schweigen mußten, jener Völker, die bisher keine Stimme hatten. Niemand konnte damals ahnen, daß diese Prophezeiung (im wahrsten Sinn des Wortes) sich dermaßen schnell erfüllen würde. Der inzwischen schwerkranke, aber geistig immer noch luzide Papst erwies sich wieder einmal als ein Mann von gestern, der seiner Zeit doch voraus ist – insofern, daß an ihm die Zerbrechlichkeit irdischen Lebens drastisch und geradezu brutal demonstriert wird, zugleich aber ans Tageslicht tritt, daß es noch eine andere, geistige Kraft gibt. Die Völker Europas wurden „wiedervereinigt“ – allerdings zeigt sich immer mehr, daß der Preis dafür hoch ist und viele hehren Ziele unerfüllt bleiben. Jenes Europa, von dem sie träumten und nach dem sie sich sehnten, wird zunächst nicht Wirklichkeit. Und auch hier zeigt sich, daß auf Johannes Paul II. ein Wort zutrifft, das einst auf Charles de Gaulle gemünzt wurde: daß er nämlich zugleich ein Mann von gestern und ein Mann von übermorgen sei, der in seinem Denken ganze Geschichtsepochen zu überbrücken vermag. Um zunächst beim Papst zu bleiben: Seine große Leistung besteht darin, den neokapitalistischen Trugbildern nicht aufgesessen zu sein, von denen auch viele katholische und evangelische Christen geblendet waren. Zum anderen ist ihm anzurechnen, daß er keine katholische Exklusivität betrieb, sondern vielmehr Rolle und Bedeutung der nicht-katholischen Nationen Europas richtig einzuschätzen wußte. Zu diesen Völkern gehörten auch die Balten (mit Ausnahme Litauens, das durch seine historische Verbindung mit Polen einen anderen Weg ging). Von Estland bis Kroatien machte der Papst auf die „vergessenen“ und „verstummten“ Nationen Europas aufmerksam. Zugleich vermittelte er die Tragödie dieser Völker so den „glücklicheren“ Westeuropäern, die selber niemals am Rande ihrer geistigen und physischen Existenz leben oder vegetieren mußten. Daher auch die ungeheuren Erwartungen, welche diese Nationen in die gemeinsame Zukunft setzen. Das alles wurde zuletzt sicht- und spürbar, als die lettische Ex-Außenministerin und zukünftige EU-Kommissarin Sandra Kalniete vom Schicksal ihrer nächsten Angehörigen im sowjetischen Gulag-System berichtete – und damit nicht nur Leipzig auf Unverständnis stieß (siehe JF 15/04). Es steht zu befürchten, daß nicht alle Frühlingshoffnungen sich diesmal verwirklichen lassen. Die „Trägheit des Geistes“ ist leider eine weitverbreitete Eigenschaft. Natürlich gibt es keine von Natur aus „bösen“ oder „guten“ Nationen. Aber es gibt Völker, die gegenüber negativen Erscheinungen mehr oder weniger tolerant sind. Wenn man von den glücklicheren Westlern etwas erwarten könnte, so wäre dies eine Einstellung, die die Idee der Freiheit nicht einfach im platten Profitdenken versacken läßt. Ein Quentchen von dem göttlichen Funken, von dem wir einst die große Freiheit erhofften, sollte erhalten bleiben. Die Glut unter der Asche sollte sich nicht durch Gedankenlosigkeit und Trägheit zerstören lassen. Wir sollten, so idealistisch es auch klingen mag, den Esten, den Ungarn, den Kroaten oder den Slowenen etwas von ihrem naiven Glauben bewahren. Was wäre das Leben ohne Träume – und ohne Illusionen?