Auch die Bestattungskultur hat teil am Fortschritt. Den Toten zu verbrennen, wird üblich. Die Flammen fressen sich von Nord nach Süd und von Ost nach West. Schon läßt sich absehen, daß, wer die Erdbestattung vorzieht, in eine Nische gerät, ähnlich dem Liebhaber mechanischer Uhren. An solch einen glänzenden Sieg war nicht zu denken, als sich die Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert ihren zunächst recht mühsamen Weg zu bahnen begann. Dem Übergang von der Erd- zur Feuerbestattung messen nur die wenigsten eine tiefere Bedeutung bei. Im Ergebnis bleibt es ja gleich, wie der Tote verschwindet. Kein Atom geht im All verloren, und keines kommt hinzu. Auch ist die Kremation kein Novum unter der Sonne. Griechen und Römer widmeten bis zur Kaiserzeit ihre Toten dem Feuer. Sosehr uns der Gedanke schmeichelt, Erben der griechisch-römischen Antike zu sein: Die Beziehung des frühen abendländischen Menschen zu dem, was über die Gegenwart hinausreicht, erinnert eher an Ägypten als an die griechisch-römische Antike. Der Gedanke an die Verbrennung des Toten wäre dem frühen abendländischen Menschen jedenfalls nicht in den Sinn gekommen. Ihm gilt, weil er sich die Auferstehung als leibliche vorstellt, als heilsnotwendig, seine Gebeine in oder wenigstens bei der Kirche beigesetzt zu wissen, dem Sitz des Heiligen, das durch den Altar oder eine Reliquie vertreten wird. Dem Heiligen traut er eine ausstrahlende Kraft zu. Ausstrahlende Kraft – das ist eine Vorstellung, die mit der anderer Kulturen vom Göttlichen, etwa der griechisch-römischen, nicht in Einklang zu bringen ist. Unsere alten Kirchen und deren Umfeld sind deshalb auch Begräbnisstätten. Die Nähe zum Heiligen spiegelt die soziale Rangordnung, weil die Strahlkraft des Heiligen als im Raum sich verändernd, nämlich mit der Entfernung abnehmend gedacht wird. Die soziale Rangordnung orientiert sich also an der Knappheit des Heiligen, und die Überzeugung, die Knappheit sei behebbar, trennt den Fortschrittlichen vom Konservativen. Auf die Knappheit des Heiligen gründet die mittelalterliche Gewohnheit, wenige Jahre nach der Bestattung die Knochen wieder auszuheben und in einem Gebeinhaus zu horten. Nicht erst heute gleicht der abendländische Friedhof einem „Rangierbahnhof“ (Ernst Jünger), als der er aus dem Blickwinkel anderer Kulturen erscheint. Wenn es im 15. und frühen 16. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Pesterfahrung zur Anlage von Notfriedhöfen abseits der Kirchen kommt, so gehorcht man nur einem Gebot der Not. Aber auch in solcher Lage läßt man den Friedhof im Dorf. Das ändert sich erst im 16. und 17. Jahrhundert im Zuge der Reformation. Jetzt verliert das Grab apud sanctos seine theologische Funktion und die Nähe des Grabes zum Altar ihre Bedeutung, so daß der Auslagerung der Toten aus der Stadt Tür und Tor geöffnet sind. Der Friedhof ist kein Schauplatz der Revolution Allerdings ändern sich Bestattungsgewohnheiten nur zögernd. Der Tod macht die Lebenden konservativ, der Friedhof ist kein Schauplatz der Revolution. Mögen Glaubensdogmen unter dem Ansturm der Zeit zerbersten, die Einstellung zum Tod folgt der Vorsicht. Deshalb vermeidet auch in der protestantischen Hemisphäre jeder, der es sich leisten kann, zunächst das außerstädtische Begräbnis. Der machtlose oder, ökonomisch formuliert, arme Mann schreitet wieder einmal voran – und wieder einmal ungern. Als schließlich der Auszug der Toten aus der Kirche und der Stadt unausweichlich geworden ist, ereignet sich etwas Merkwürdiges. Es entsteht der deutsche Camposanto-Friedhof, ein von Arkaden eingefriedetes Gräberfeld. Die Arkaden sind keine Kirche, aber sie bedeuten die Kirche. „Die Camposanto-Friedhöfe symbolisieren die Unabhängigkeit des Grabes vom Kirchenraum und befriedigen gleichzeitig das Bedürfnis des reichen Bürgertums und der städtischen Eliten nach sepulkraler Repräsentanz“, so Barbara Happe. Mehr noch: Sie stillen ein Bedürfnis nach der Realpräsenz des Heiligen. Hat bislang die Nähe zum Altar als Gradmesser für den Rang des Toten gegolten mit der Folge, daß der Außenseiter im Heilsgeschehen schlechte Karten hat, so kehrt sich das Verhältnis nun um. Auf dem Camposanto-Friedhofs rückt der bisherige Außenseiter in die Mitte des Friedhofs und behält gerade deshalb die schlechten Karten. Selbst die bloße Andeutung des Heiligen, die „Als-ob-Kirche“ der Arkaden, entwickelt eine solch unwiderstehliche Anziehungskraft, daß sie die soziale Rangfolge zu definieren imstande ist. Die reformatorische Vertreibung der Toten aus der Kirche und der Stadt liegt im Trend. Ab 1770 setzt sich das Verbot der Kirchenbestattung und das Gebot, Friedhöfe außerhalb der Ortschaft anzulegen, auch in der katholischen Hemisphäre durch. In der Folgezeit blüht das auf, was sich uns heute zumeist als historischer Friedhof darbietet: der bürgerliche Friedhof. Die Markierung des Grabs mittels des freistehenden Grabmals – und dies kennzeichnet den bürgerlichen Friedhof – simuliert den Bezug zum Heiligen, freilich abermals abgeschwächt. Das Grab sei ein Teil der Heimat, notierte Carl Schmitt Die Gesellschaft der Toten ist jetzt nicht mehr durch die Nähe zum Altar gegliedert, auch nicht mehr durch die Nähe zur „Als-ob-Kirche“ der Arkaden, die längst außer Gebrauch geraten sind. Der Einzelne muß die Anlehnung an das Heilige auf eigene Faust simulieren. Das Bürgertum, der Nichtstand, der seine Existenz auf Vernunft gebaut hat, entbehrt der Sicherheit der religiösen Bindung, nachdem der moderne Staat die Religion neutralisiert und zur Privatsache gemacht hat. Gewiß: der Hinweis auf den Verstorbenen, seinen sozialen Rang, ist dem Bürger wichtig. Aber käme es nur auf den Hinweis an, so brauchte das Grabmal nichts anderes als eine Vorrichtung zu sein, an der sich das Epitaph befestigen läßt. Der bürgerliche Friedhof wäre dann ein recht trostloser Ort geworden. In Wahrheit will das Grabmal nicht weniger, als ein Stück eines sakralen Bauwerks simulieren. Es hat nicht nur Funktion, sondern auch Bedeutung. Deshalb ist es eine Abbreviatur klassizistischen, neugotischen, jugendstilistischen oder modernen sakralen Bauens, und nur darum investiert der Bürger in das Grabmal seinen künstlerischen und finanziellen Ehrgeiz. Allerdings treibt das Bedürfnis nach sepulkraler Repräsentanz nach dem Wegfall der durch Altar und Arkade vorgegebenen Ordnung und des hierdurch tradierten Formenkanons derart kräftige Blüten, daß sich ihre Beschneidung nicht mehr vermeiden läßt. Der Konkurrenzkampf, das bürgerliche Lebensprinzip, plagt seinen Erfinder nicht nur im Leben, sondern auch im Tode. Der Friedhof wird zur „Rennbahn des Ehrgeizes“. Die Friedhofsgeschichte verzeichnet fortan den Schlagabtausch zwischen dem wuchernden bürgerlichen Simulations- und Repräsentationsbedürfnis und dessen Regulierung und Eindämmung. Regulierung und Eindämmung entsprechen der bürgerlichen Maß- und Formlosigkeit, so wie Gleichheit und Freiheit, obschon sich begrifflich ausschließend, einander entsprechen. Das Reihengrab, in dem in der chronologischen Abfolge des Sterbedatums ohne Rücksicht auf den familiären Zusammenhang und – jedenfalls dem Anspruch nach – ohne Rücksicht auf den sozialen Rang in Einzelgräbern bestattet wird, und das monströse Mausoleum auf dem Parkfriedhof markieren die Frontlinien in diesem Kampf. Im 20. Jahrhundert endlich wird der Kampf entschieden – zugunsten des Reihengrabs. Und selbst dieses ist nicht mehr jedem vergönnt. Die Asche ist die Quintessenz der Gleichheit. An ihr läßt sich keine Unterscheidung mehr festmachen. Ihr kommt daher kein Grab zu, sondern die Zerstreuung. Das heute noch verbreitete Urnengrab gehört wie die Droschkenform der frühen Automobile zu den Pseudomorphosen; es wird bald außer Gebrauch geraten. Der Trend zur anonymen Beisetzung zielt auf nichts anderes, desgleichen die Friedwälder, die vor ihrem Boom stehen. Die Heimat sei das Haus und das Grab ein Teil der Heimat, notierte Carl Schmitt. Die „Leichenverbrenner“ rechnete er zu den Heimat- und Friedlosen. Mit der Kremation bricht der symbolische Bezug zum Heiligen ab. Weder Kirche noch Arkade noch Grabmal vertreten mehr den Toten. So gibt der Friedhof seinen Geist auf und verkommt zum Museum. Foto: Alter Friedhof in Buttstädt, Thüringen: Auf dem als „Thüringer Camposanto“ bezeichneten Friedhof aus der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert sind eine Vielzahl kunstgeschichtlich und historisch bedeutsamer Grabmale erhalten. Seit 1991 werden die Grabmale umfassend konserviert.
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