Tatatatata“ ticken Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner dem zweiten Satz, Allegretto scherzando, von Beethovens 8. Symphonie das Metrum vor. Darüber intonieren die ersten Violinen eine Melodie, die bekannt vorkommt. Das Thema entnahm Beethoven einem lustigen Kanon, den er J. N. Mälzel gewidmet hatte, dem Erfinder eines mechanischen Taktmessers, Mälzels Metronom genannt. Dieses Metronom revolutionierte die Interpretation aufgeschriebener Musik, denn von nun an war es den Komponisten möglich, genau festzulegen, in welchem Tempo ihre Musik gespielt zu werden hatte, wenn sie es denn festlegen und ihre Interpreten sich dran halten wollten. Im Falle Beethovens haben sich die Interpreten oft nicht daran gehalten, als zu schnell erschienen ihnen die Vorgaben des Komponisten. Genau richtig, meint der Dirigent Michael Gielen und nimmt den ersten Satz der Achten in bewegterem Tempo als nur ein Allegro vivace, nämlich Allegro vivace e con brio: mit Schwung. Gielen sieht sich in der Tradition des Dirigenten-Typus, wie ihn zuerst Mendelssohn und im letzten Jahrhundert Toscanini verkörperten, der den Gesamtzusammenhang eines Werkes durch Straffung und einheitliche Tempi herzustellen sucht. Erst dann nämlich vermögen kleinste Tempoänderungen wirklich zu irritieren, vermag das Ohr agogische Gestaltung sinnvoll nachzuvollziehen, verliert die zu Unrecht vernachlässige Achte ihre humoristische Harmlosigkeit, wird sie wieder zu jenem Stück modernster Musik, das sie zur Zeit ihrer Niederschrift war. Gielen besteht auf der Wesenseinheit aller großen Musik; Neue Musik könne man nur dann gut zu dirigieren, wenn man eine Vorstellung von der überlieferten Musik habe. Und die klassische Musik ohne Vorstellung von den Konflikten unserer Zeit zu dirigieren, wäre bloßer „Konsumvollzug“, „verweigert wird die landläufige Unterscheidung der Musik in jene, die ins Ghetto gehört, und jene andere, die zum Genießen da sei.“ Wer Neue Musik bisher als unerträglich empfindet, sich aber bei einer unerträglichen Schubert-Aufführung wohlfühlen kann, dem gibt eine repräsentative Sammelbox die Möglichkeit, sein musikalisches Empfinden zu schulen (Hänssler Classic 93.080, 5 CDs), deren beredte Zusammenstellung – auf den einheitskulturellen „Segen der Sauce“ (Schönberg) verzichtend – über die exemplarischen Interpretationen der Einzelwerke hinaus eine gründliche Einführung in Klassik und klassische Moderne bietet. Gielen dirigiert das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dessen Chefdirigent er von 1986 bis 1999 war. „Mein Programm-Ideal: ein Stück in die Nähe eines andern zu rücken, damit das erste sein Licht auf das zweite wirft und umgekehrt, und beide Werke wie neu erscheinen.“ Schuberts Große C-Dur-Symphonie erscheint zusammen mit dem „Frühlingsstimmen“-Walzer von Johann Strauß, Bruckners VI. Symphonie mit Bachs Präludium und Fuge für Orgel BWV 552, für großes Orchester gesetzt von Schönberg. Eine CD setzt die großen Klangfarben-Experimentatoren des frühen 20. Jahrhunderts Ravel, Skrjabin, Busoni und Strawinski ins rechte Licht. Eine weitere stellt Gielens eigene Komposition „Pflicht und Neigung“ für Ensemble von 1988 in die Tradition der Zweiten Wiener Klassik, Schönberg, Berg und Webern, ergänzt um die Orchestervariationen des Komponisten und Pianisten Eduard Steuermann. Beethovens Achter und seinem 3. Klavierkonzert antwortet Gielens Bearbeitung der „Großen Fuge“ für Streichorchester, geschrieben, um „das Hören des avanciertesten Beethoven-Stückes zu erleichtern“. So radikal, so rätselhaft, so schockierend modern kann Beethoven klingen. Und die Tempi stimmen auch!
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