Soviel Gereiztheit war in den deutsch-polnischen Beziehungen schon lange nicht mehr, wobei diese Gereiztheit aus der polnischen Gesellschaft kommt, nicht von der Regierung. Die konservative Zeitung Rzeczpospolita greift auf alliierte Greuelpropaganda zurück und bringt die Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach mit Seife aus Menschenfett in Verbindung. Das Magazin Wprost zeigt sie in SS-Uniform auf Gerhard Schröder als ihrem trojanischen Pferd reitend. Gleichzeitig wird Deutschland mit einer Billionen-Klage wegen des Zweiten Weltkrieges gedroht. Sieht man von der beleidigenden historischen Anspielung der Karikatur einmal ab, dann ist die Darstellung des Kanzlers als Schlachtroß der Vertriebenen einfach absurd. Es ist die Stunde der unkontrollierten Emotionen. Sachlich schwerer wiegt der Artikel des (exil-)polnischen Philosophen Leszek Kolakowski in der vorletzten Nummer der Zeit. Dieser originelle und wegen seiner kultivierten Sprache gerühmte Denker warnt im alarmistischen Tonfall vor dem Berliner Zentrum gegen Vertreibungen als Auftakt für Grenzrevisionen und Restitutionsforderungen. Sein Text gibt aber Aufschluß über den psychologischen Hintergrund der Kampagne. Es geht um die Verletzungen, die Polen im Zweiten Weltkrieg erlitt. Diese Verletzungen wurden ganz persönlich erlebt. Und es ist nicht nur der Schmerz über die Toten und die materiellen Verluste. Die Polen haben nicht vergessen, daß sie als Kulturvolk ausradiert werden sollten. Man kennt den zynischen Ausspruch Himmlers, für sie genüge eine Vier-Klassenschule, wo ihnen die einfachen Grundrechenarten, das Schreiben ihres Namens und der Gehorsam gegenüber den Deutschen beigebracht werden sollte. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands wurde die polnische Altstadt mutwillig zerstört, Archive und Bibliotheken vernichtet. Hier wurzelt auch der Unwille, die kriegsbedingt ausgelagerten Archive und Bücherbestände der Preußischen Staatsbibliothek, die sich heute in Krakau befinden, zurückzugeben. Man hat in Deutschland die Empfindlichkeiten der Polen unterschätzt. Das Zentrum gegen Vertreibungen stellt für sie eine Zumutung und den Versuch einer Belehrung dar. Der Vergleich mit den Empfindlichkeiten der ehemaligen DDR-Bürger liegt nahe. Diese reagieren ebenfalls allergisch, wenn sie durch „Wessis“ penetrant auf die dunklen Seiten des SED-Staates gestoßen werden. Es ist zu bedenken, daß sich in Polen ein demokratisches System erst seit 13 Jahren voll entwickeln kann. Die Aufarbeitung dunkler Flecken in der eigenen Geschichte hat aber schon vor 1989, noch in halber Illegalität, begonnen. Man muß an den Brief erinnern, den die polnischen Bischöfe 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder richteten. Legendär ist der Satz: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung!“ Das war auch eine mutige Kampfansage an die eigene kommunistische Staatsführung, die den Haß auf das „revanchistische“ und „faschistische“ (West-)Deutschland schürte und als Legitimationsbasis nutzte. Die gewährte Vergebung bedeutete: Wir wollen keinen Haß auf die Deutschen mehr! Die Bitte um Vergebung schloß die Anerkennung eigener Schuld ein. Viele Polen, die in den deutschen Ostgebieten angesiedelt wurden, fühlten sich bis in die sechziger Jahre hinein gleichsam wie auf gepackten Koffern, weil sie mit der Rückkehr der Deutschen rechneten. Entsprechende Ängste kamen 1989/90 wieder hoch. Wie Kolakowskis Artikel zeigt, lassen sie sich heute noch immer zum Leben erwecken. Sie sind unbegründet. Die Vertriebenen haben bereits 1950 auf Rache und Vergeltung verzichtet. Wer das nun für belanglos oder selbstverständlich hält, hat alle historischen und menschlichen Maßstäbe verloren. Als Algerien, das 1846 von Frankreich annektiert worden war, sich über hundert Jahre später vom ungebetenen „Mutterland“ zu lösen begann, kam es darüber in Frankreich beinahe zu einem Bürgerkrieg. Vergleichbare Revolten hat es in Deutschland nicht gegeben, obwohl es um keine kurzzeitige Kolonie, sondern um Gebiete ging, die kulturell und geschichtlich seit Jahrhunderten zu Deutschland gehörten. Zwar schlugen in den frühen siebziger Jahren im Zusammenhang mit den Ostverträgen die Emotionen hoch, aber niemand ist 1989/90 auf den Gedanken gekommen, nun etwa eine antipolnische Revisionspolitik einzuleiten. Auch in Polen wird heute anerkannt, daß in Deutschland, das sich nach 1945 radikal nach Westen gedreht hat, gerade die Vertriebenen und ihre Nachkommen zu der Minderheit gehören, der das deutsch-polnische Verhältnis ein Herzensanliegen ist. Das sind gute Grundlagen für die Zukunft, die auch durch Demagogen nicht zerstört werden können. Angesichts der Wunden, die man sich in der Vergangenheit geschlagen hat, sind die jetzt ausgebrochenen Emotionen sogar normal. Von einer „Versöhnungslüge“, wie Andreas Krause in einem bemerkenswert scharfen Kommentar in der Berliner Zeitung schrieb, kann daher nicht die Rede sein. Es fallen nur Illusionen und Beschönigungen in sich zusammen. Die Gründe für die gegenwärtige schiefe Debattenlage liegen auch in Deutschland. Daß der Bundestagsabgeordnete Markus Meckel sich aus Wichtigtuerei als Nestbeschmutzer und Angstmacher betätigt, ist ein Stück aus dem Tollhaus. Daß er auf diese Idee überhaupt kommen konnte, liegt an den falschen geschichtspolitischen Weichenstellungen der letzten Jahre. Es ist international registriert worden, daß das offizielle Deutschland sich inbrünstig auf die ewige Täterrolle kapriziert und vor der Denunziation seiner eigenen – oft völlig unschuldigen – Opfer nicht zurückschreckt. Nun geht es aber im zwischenstaatlichen Leben zu wie im privaten: Man nimmt die Vorteile, die sich für einen selber aus Denunziationen ergeben, gerne wahr, doch vor dem Denunzianten hat man deshalb noch keineswegs Respekt. Vor einigen Jahren fand im polnischen Kulturinstitut in Berlin eine Podiumsdiskussion statt, an der unter anderem ein Professor vom Posener Westinstitut und ein Vertreter der deutschen Bewältigungs-Branche teilnahmen. Während der Pole in akzentfreiem Deutsch insistierte, daß Preußen im 19. Jahrhundert ein Rechtsstaat war, vor dessen Gerichten auch polnische Bürger ihr Recht erhielten, wollte der Deutsche die Preußenkönige partout als Polenhasser und Vorläufer Hitlers darstellen. Irgendwann brach der Gast aus Posen die Diskussion mit der Bemerkung ab: „Ich kann es nicht leiden, wenn Deutsche sich polnischer gebärden als die Polen!“ Weil dieses Verhalten eben so wenig „normal“ ist, bar natürlicher menschlicher Impulse, ist es anderen Völkern im Grunde unheimlich. Man fragt sich, ob es sich nicht um die besonders geschickte Tarnung eines besonders perfiden Planes handelt. In dem Moment, wo die normalen Impulse sich wieder Geltung verschaffen – etwa im Gedenken an eigene Opfer -, wo aufscheint, daß Leute wie Fischer, Meckel und Konsorten überhaupt nicht repräsentativ sind, da scheinen sich solche Befürchtungen zu bestätigen und wird sogar ein harmloser Bundeskanzler als trojanisches Pferd verleumdet. Die aufgeregte Rhetorik zeigt, daß es eine „europäische Öffentlichkeit“, von der soviel geredet wird, noch gar nicht gibt. Sie würde voraussetzen, daß die Disputanten sich über die Bedeutung der Worte, Symbole und Begriffe, die sie benutzen, ungefähr einig sind. Davon kann keine Rede sein. Nach wie vor sind die Nationen der ausschlaggebende Bezugspunkt. Das muß nicht ewig so bleiben. Ein Zentrum in Berlin, das zur deutschen Selbstverständigung wie auch zum Verständnis der Nachbarn beiträgt, könnte zum tragfähigen Pfeiler für eine künftige europäische Öffentlichkeit werden. Würde dagegen der Vorschlag, das Vertriebenenzentrum unter die Aufsicht des Europarates zu stellen, in die Tat umgesetzt werden, dann würde dieses dringend benötigte Geschichts-, Gedenk- und Erinnerungswerk lediglich zum Spielball der Diplomaten. In diesem Spiel hätte das neurotisierte Deutschland die schlechtesten aller Karten. Am Ende stünden statt Vergebung und Versöhnung nur neue Verbitterungen. Darauf zielt auch die Äußerung des Deutschland-Experten Janusz Reiter, der 1990 der letzte polnische Botschafter in der DDR war. Obwohl er Berlin als Standort ablehnt, hielte er es für katastrophal, wenn in Deutschland der Eindruck entstünde, das Projekt scheitere an polnischer Intransigenz. Die Wprost-Karikatur in Verbindung mit der Klagedrohung zeigt noch eine ganz neue Gefahr: Über die deutsch-polnischen Beziehungen könnte sich der Schatten einer globalen Schuldkultur legen, in der die Deutschen die negative Kontrastfigur abgeben. Auch dem Kommentator der Berliner Zeitung ist diese Gefahr nicht ganz klar. Unter Berufung auf Hannah Arendt identifiziert er den Nationalsozialismus mit dem „absolut Bösen“, für dessen Untaten es keine Wiedergutmachung geben könne, aber irgendwann doch Verzeihung geben müsse. Nun ist dieses spekulative Konstrukt der aus Königsberg stammenden Meisterdenkerin, wie Ernst Nolte im grandiosen Schlußkapitel seines Buches „Streitpunkte“ (1993) nachgewiesen hat, wissenschaftlich unhaltbar. Um so mehr ist es zum Angelpunkt von Bestrebungen geworden, die das Verzeihen für alle Zukunft verhindern wollen. Der amerikanische Lyriker und Pulitzer-Preisträger C. K. Williams hat im November 2002 in der Zeit die Hoffnung auf Rückkehr der Deutschen in eine Normalität als „naiv“ bezeichnet. Wer das glaube, traue „auf unschuldige Weise der Geschichte eine Kraft des Verzeihens zu, die ihr nicht innewohnt“. Vielmehr hätten die Deutschen „den Wert ihrer Nation (…) durch Taten zu belegen, zu denen andere Nationen nicht verpflichtet sind“. Gehört zu diesen „Taten“ etwa auch, die eigenen Opfer preiswert zu verrechnen? Und was, wenn aus Williams gar nicht die „Geschichte“ spricht, sondern ein falsches Bewußtsein oder der Wille zur Macht? Die 68er Geschichtspolitik hatte den Eindruck erweckt, die Deutschen hätten solche perversen Zumutungen schon verinnerlicht. Die Pläne für das Vertriebenenzentrum bezeugen das Gegenteil. Wenn daher der überraschte Wprost-Chefredakteur Frau Steinbach einen „Dämon“ aus einer „schrecklichen Vergangenheit“ nennt, ist das eigentlich ein Lob. Foto: Erika Steinbach in Warschau (16. September 2003): Das offizielle Deutschland kapriziert sich international auf die ewige Täterrolle
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