Das Zusammentreffen ist bezeichnend: Zur selben Zeit, als die verheerenden Anschläge in Bombay am 25. August 52 Menschen das Leben kosteten und weitere 152 verletzten, wurde der indischen Regierung ein archäologischer Bericht vorgelegt, der zur Klärung über die umstrittene Babri-Moschee in der heiligen Stadt Ayodhya beitragen sollte. Seit Indiens Unabhängigkeit 1947 erschüttern die mit über einer Milliarde Einwohnern „größte Demokratie der Welt“ immer wieder blutige Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Hindus und Muslimen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand dabei nicht selten die Babri-Moschee, die hinduistischen Vorwürfen zufolge auf den Ruinen eines Tempels gebaut sein soll, der die Geburtsstätte des indischen Gottes Rama markierte. Insgesamt sind nach Schätzungen von Archäologen wohl bis zu 30.000 Moscheen landesweit auf den Überresten hinduistischer Heiligtümer gebaut worden. Die moslemischen Eroberer ließen es an Zeichen ihrer militärischen Überlegenheit nicht mangeln, als sie um das erste nachchristliche Jahrtausend in Eroberungswellen in Indien eindrangen (ab 1206 Sultanat Delhi) und bis ins 16. Jahrhundert den Norden Indiens politisch dominierten und kulturell beeinflußten. Neben der Zerstörung bedeutender hinduistischer Kulturdenkmäler wurden auch die größten Universitäten des Altertums (Nalanda, Vishaldev) ein Raub der Flammen. Neben den wenigen positiven Zeugnissen dieser Synthese arabischer und indischer Kultur (der friedvolle Sikhismus entstammt dieser „Zwangsehe“) bleibt aber der latente Grabenbruch zwischen Hindus und Moslems auch nach Jahrhunderten bestehen. Für die Hindus ist jede Moschee eine Erinnerung an Zeiten der schonungslosen Unterjochung und Islamisierung, für die Moslems ist seit der Unabhängigkeit die Schikanierung und Herabsetzung durch die hinduistische Bevölkerungsmehrheit unerträglicher denn je. Dazu kommt, daß physische Gewalt im indischen Subkontinent generell auf der Tagesordnung steht: Unzählige politische Splittergruppen, die sich wie Banden blutige Kämpfe liefern, heizen das soziale Klima auf. Der starke religiöse Nationalismus ist damit seit langem zum einenden Element geworden und hat nicht zufällig die stark nationalistische BJP (Bharatiya Janata Party, die Indische-Volks-Partei) an die Macht gebracht. In der Vergangenheit haben die Ressentiments gegenüber der moslemischen „Minderheit“ dieser Partei nicht unbedingt schlechtere Karten beschert. Insbesondere der stellvertretende Ministerpräsident und Brahmane Lal Krishna Advani gilt als Leitfigur der extremistischen Hindus und wird trotz seiner 88 Jahre als Nachfolger des gemäßigteren Ministerpräsidenten Atal Behari Vajpayees gehandelt. Advani soll auch der Rädelsführer jener aufgebrachten Hindus gewesen sein, die mit der Erstürmung der umstrittenen Babri-Moschee in Ayodhya 1993 beinahe einen Bürgerkrieg ausgelöst hatten. Einen Tag nach den Anschlägen in der Finanzmetropole Bombay besichtigte Advani den Ort des Geschehens. Seine Vermutung, daß es sich bei den Terrorakten um das Werk der verbotenen muslimischen Studentenbewegung SIMI oder der angeblich von Pakistan unterstützten Laskar-e-Teyybar Gruppe handelte, wurde von der Polizei bestätigt. Seit Dezember hatte eine ganze Serie von Bombenanschlägen Bombay heimgesucht, für die man die eine oder andere der beiden Gruppen verantwortlich macht. Die Lashkar-e-Teyybar („Armee der Gerechten“) ist eine hauptsächlich in Kaschmir operierende Guerillagruppe, die für den Anschluß Kaschmirs an das islamische Pakistan bzw. eine Unabhängigkeit kämpft und für den Anschlag auf das indische Parlament 2001 verantwortlich gemacht wird. Es ist schwer, aus der Spirale von Gewalt auszubrechen Alle Tatverdächtigen sollen nach Angaben der indischen Behörden Opfer der Pogrome aufgebrachter Hindus gewesen sein, die sich an der muslimischen Bevölkerung rächten, als vergangenes Jahr ein Pilgerzug auf dem Weg nach Ayodhya von Moslems überfallen und in Brand gesteckt wurde. Aus dieser Spirale von Gewalt auszubrechen, ist schwer. Nachdem sich Indien und die Islamische Republik Pakistan in den letzten Monaten zaghaft angenähert hatten und bereits erste Reisebusse zwischen den Ländern verkehren, ist durch die Anschläge im Herzen Bombays wieder außen- und innenpolitische Ernüchterung eingetreten. Während der Ministerpräsident Vajpayee noch von Kaschmir aus alle zukünftigen Gespräche mit Pakistan auf unbestimmte Zeit aussetzen ließ, „solange die Gewalt durch islamistische Gruppen nicht beendet“ würde (seine Ankunft in dem nordöstlichsten indischen Bundesstaat wurde von einem Bombenanschlag in der Hauptstadt Srinagar und einem elfstündigen Feuergefecht zwischen Polizeikräften und Rebellen begleitet), konterte Pakistan und riet Indien, sich als Ankläger nicht zum Richter aufzuschwingen. Trotzdem stehen die Zeichen außenpolitisch auf Versöhnung. Beide Länder haben sich durch ihre Beiträge zum Kampf gegen den Terror zurückzuhalten. Während Indien gerade mit Hinblick auf den islamistischen Terror ganz gezielt an einer gemeinsamen Achse zwischen Israel, Washington und Neu Delhi arbeitet, will das ökonomisch schwächelnde Pakistan seine US-Unterstützung nicht einbüßen. Diese außenpolitische Entspannung spiegelt leider keineswegs die innerpolitischen Verhältnisse wider. Hier leben Moslems und Hindus in einem gespannten Nebeneinander, das beim geringsten Auslöser explodiert. Vor allem die Ausschreitungen im Bundesstaat Gujarat vergangenes Jahr haben dazu geführt, daß viele indische Moslems der Mittelschicht sich extremistischen Gruppen angeschlossen haben. Diese würden nun über weit bessere Logistik und Rückhalt in der Bevölkerung verfügen als noch zu Beginn der neunziger Jahre. Auslöser dafür war für viele Moslems die Zurückhaltung der indischen Behörden, die erst spät das Militär einsetzten, um dem Blutvergießen in Gujarat Einhalt zu gebieten. Der moslemischen Minderheit schien es, als sei sie mehr als unerwünscht. Ein Ausdruck für diese Gespaltenheit des indischen Vielvölkerstaats ist auch der eingangs erwähnte Bericht der Archäologischen Gesellschaft Indiens (ASI) die nach einer fünfmonatigen Ausgrabung rund um die Babri-Moschee in Ayodha einen Bericht vorlegte, nachdem ein Gericht die Gesellschaft zu den Ausgrabungen angehalten hatte, um den seit 1993 schwelenden Konflikt beizulegen und die „Urheberschaft“ an dem heiligen Ort ein für allemal festzulegen. Obwohl der Bericht zu keinem eindeutigen Ergebnis kam, wurde er von der Regierung dahingehend interpretiert, daß ein Tempel vor der Moschee bestanden haben müßte. Rund fünfzig Meter von der Moschee entfernt wurden zerbrochene Statuen und Lotusornamente entdeckt – eindeutige Hinweise auf eine hinduistische Vorgeschichte? Obwohl es gerade in einer Stadt wie Ayodhya (schon zu buddhistischen Zeiten als Saketa bekannt) kaum ein Fleckchen Erde gibt, an dem nicht irgendein historisches Gebäude entdeckt werden kann, entbrannte über die willkürliche Auslegung der Regierung ein Disput unter den angesehensten indischen Archäologen. Hinweise auf neuen „spektakulären Anschlag“ Dennoch ist das anhaltende religiöse Ressentiment für die Masse der Inder keine persönliche Option. So wie die etwa 200 moslemischen Demonstranten, die kurz nach den Anschlägen von Bombay ihre Sympathie für die Angehörigen der Opfer (darunter natürlich auch Moslems) mit einem Friedensmarsch bekundeten, beschwichtigt auch Mohammed Ahmed, ein Imam in Neu Delhi, seine Glaubensbrüder: „Es ist nicht die Zeit für einen Dschihad. Über 80 Prozent der Hindus hegen keinen Groll gegen uns. Warum sollten wir uns von einer Handvoll Extremisten verleiten lassen?“ Inzwischen haben die seit den Anschlägen von Bombay landesweit verschärften Sicherheitsvorkehrungen in Neu Delhi erste Früchte gezeitigt: Die Polizei konnte vergangenen Samstag auf dem Hauptbahnhof eine Sprengladung sicherstellen und verhinderte noch in derselben Nacht eine Waffenübergabe an eine moslemische Extremistengruppe. Es bleibt zu hoffen, daß während den kommenden zwei Monaten intensiver hinduistischer Festivitäten keine der gefürchteten rund ein Dutzend fundamentalistischen Terrorgruppen einen „spektakulären Anschlag“ plant, wie die indische Polizei zur Zeit vermutet.
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