Scheinbar war es ein simpler Machtkampf, in Wirklichkeit war es der Griff nach der Notbremse. Hätte der Aufsichtsrat des Bertelsmann Medienkonzerns das Arbeitsverhältnis seines Vorstandsvorsitzenden Thomas Middelhoff Anfang voriger Woche wegen „unterschiedlicher Auffassungen“ über die künftige Unternehmensstrategie nicht abrupt beendet, der Mann wäre auf seinem Weg in den Abgrund nicht mehr zu halten gewesen. Der 49jährige Manager forderte immer größere Summen, um immer gewaltigere Zukäufe zu finanzieren, Zukäufe, die erkennbar nichts einbringen würden als Verluste, Schulden oder drohende Insolvenzen. Bertelsmann befand sich schon seit Monaten auf dem absteigenden Ast. Die große Krise im Medienbereich hat auch das Gütersloher Haus erfaßt. Sein Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr weiß vor lauter Schwierigkeiten nicht mehr ein noch aus. Die anstehende Übernahme des internationalen Musikverlages Zomba erweist sich bereits jetzt als ein ungeheurer Schuß in den Ofen. Die durch den Verkauf von Anteilen am Onlinedienst AOL und des Internet-Netzwerkdienstleisters Mediaway eingenommenen über sieben Milliarden Euro schmelzen dahin wie Butter in der Sonne. Um so gespenstischer das unverdrossen dröhnende Gebaren des nun geschaßten Vorsitzenden Middelhoff, der seit Oktober 1998 an der Spitze bei Bertelsmann stand. Unbeeindruckt vom Untergang seiner Konkurrenten und „Freunde“ Leo Kirch und Jean-Marie Messier (die JF berichtete) kehrte er bis zuletzt den souveränen global player heraus, den nichts bei seinem Sturmlauf zur „absoluten Weltspitze“ aufhalten konnte. Schwierigkeiten sah er nicht in dem von ihm so sehr geliebten Internet oder in der nicht minder geliebten und gepriesenen „New Economy“, sondern einzig in der Biederkeit und angeblichen Provinzialität des deutschen Stammhauses, das seiner eigenen Genialität einfach nicht gewachsen war. Ewig lag er den Mehrheitsgesellschaftern, der Gründerfamilie Mohn, im Ohr mit der Aufforderung, sich endlich von ihrem 75-Prozent-Besitzanteil an Bertelsmann zu trennen, an die Börse zu gehen und das Unternehmen in eine börsennotierte Aktiengesellschaft umzuwandeln, damit man endlich an genügend Fremdkapital für weitere Zukäufe und Expansionen herankäme. Der Inhalt der Ware, mit der er handelte, war Middelhoff völlig gleichgültig. Um etwa Geld für den Erwerb der defizitären Zomba zu bekommen, leitete er kalten Blutes den Verkauf des berühmten Wissenschaftsverlags Springer ein, obwohl dieser ein Juwel im Portfolio von Bertelsmann ist und auch guten Gewinn abwirft. Middelhoff als Bertelsmann-Vorstand war geradezu der Inbegriff des neumodischen, „rasanten“ Unternehmertyps, wie ihn die „New Economy“ hervorgebracht hat. Mehr Schein als Sein, mehr Raffer als Schaffer, nannte er sich mit Stolz „einen Amerikaner mit zufällig deutschem Paß“. In seiner Umgebung durfte nur Englisch gesprochen werden, nicht nur bei den Vorstandssitzungen in Gütersloh, sondern auch auf Partys bei ihm zu Hause in Bielefeld. Er liebte es, sich bei allen möglichen Anlässen mit den Mächtigen dieser Welt zu zeigen, hielt einen ganzen Hofstaat ihm genehmer, speziell auf ihn getrimmter Journalisten und glaubte, „das Medienfeld“ jederzeit voll im Griff zu haben. So war es tatsächlich auch seinem Arrangement zu verdanken, daß sein Rauswurf in den Medien ganz überwiegend als schwer begreifliche Fehlleistung eines familiären Denver-Clans dargestellt wurde, als ein Anschlag alter Männer und ehrgeiziger Ehefrauen, der sich schnell rächen werde, weil eben die Mitglieder des Gütersloher Clans und ihre vergreisten Helfershelfer keine Ahnung von den Erfordernissen der neuen Zeit und ihrer globalen Economy hätten. Dabei sprachen aber alle aktuellen Daten eindeutig gegen Middelhoff und für den „ränkesüchtigen Clan“. Sparsamkeit, Frontverkürzung, Reservenbildung und strengstes Operationskalkül sind nun in Gütersloh unter dem neuen Vorstand Günter Thielen (59) angesagt. Man möchte auch nicht im entferntesten mit Kirch oder mit Messiers französischer „Vivendi Universal“ verglichen werden, auch nicht mit dem größten Medienkonzern der Welt, AOL/Time Warner, der ebenfalls bereits in Schwierigkeiten steckt und dessen Vorsitzender, Steve Case, wohl bald das Schicksal von Jean-Marie Messier und Thomas Middelhoff teilen dürfte. Die Ansteckungsgefahr ist groß, und die Gütersloher wollen auf keinen Fall angesteckt werden. Ob es gelingen wird, mit neuen Strategien dem Unheil auszuweichen, hängt freilich nur zum kleineren Teil von Gütersloh ab. Auch der Bertelsmann Konzern ist eingebettet in das Schicksal der Medienbranche insgesamt, und deren Lage ist im Augenblick so desolat wie noch nie zuvor. Ihre Matadore vom Schlage Middelhoff, Case, Messier e tutti quanti waren es vor allem, die die Blase der „New Economy“ aufpumpten, und deshalb fliegen deren Fetzen jetzt in erster Linie der Medienbranche um die Ohren. Viele Ökonomen prognostizieren indessen, daß sich der Untergang der „New Economy“ zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise ausweiten wird. Die Ausweitungsfaktoren seien schon in Tätigkeit, die Blasen zerplatzen nicht nur, sondern erzeugen dabei auch einen Gestank, der sich wie Gift in die Lungen der Investoren frißt. Weil sich nichts mehr schönreden läßt, wird nun schöngeschrieben, das heißt die Bilanzen werden gefälscht, den mit leeren Versprechungen herbeigelockten Aktienbesitzern wird die Zunge gezeigt, 95 Prozent aller Börsengänge entpuppten sich als voreilig, wenn nicht als übler Schwindel. Schon allein deswegen waren die Gütersloher zweifellos gut beraten, als sie ihrem Middelhoff mißtrauten und sich der Börse unter den obwaltenden Bedingungen verschlossen. Wenn es stimmt, daß wirtschaftliches Gedeihen nicht unbeträchtlich auf Psychologie beruht, so ist es hoch an der Zeit, diese spezifische Wirtschaftspsychologie endlich einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Bisher galt dort faktisch nur ein einziger Grundsatz: Man könne, so wurde suggeriert, den Aufschwung herbeireden. Unzählige „Analysten“ (von denen die meisten von den wirklichen Wirtschaftsvorgängen keine Ahnung hatten) praktizierten das Herbeireden und nahmen dafür höchste Honorare. Und unzählige „Wirtschaftsprüfer“ nahmen sich an ihnen ein Vorbild und „prüften“ ausschließlich nach dem Prinzip Hoffnung. Was nicht in den Büchern stand, konnte man sich leicht dazudenken – und schließlich konnte man es sogar in die Bücher hineinschreiben. Ein unheilvoller Verbund aus „New Economy“-Managern à la Middelhoff, „Analysten“ und „Wirtschaftsprüfern“ entstand, der alsbald nur noch in fiktiven Räumen operierte, die reine Möglichkeit, die bloße Utopie, für wirtschaftliche Wirklichkeit nahm und dem der Blick für wahre Wertschöpfung komplett abhanden kam. Am Ende eines solchen Prozesses steht notwendig die Wertvernichtung, die Geldvernichtung, die Existenzvernichtung derer, die auf diese Art von Psychologie hereingefallen sind. Wer gegen so etwas die Notbremse zieht, der verdient Lob, einerlei ob er nun ein pensionsreifer Provinzler, eine ehrgeizige Ehefrau oder gar ein ganzer Genie-freier Familienclan ist.