Bereits am Samstag herrschte ein striktes Fahr- und Alkoholverbot, am Sonntag gab es in ganz Bolivien nur ein Thema: die Stichwahl um die Präsidentschaft zwischen dem rechten Rodrigo Paz und dem noch rechteren Jorge „Tuto“ Quiroga, der den Sozialismus nach Mileis Vorbild mit Stil und Stumpf ausrotten will. Paz, der das Land und die Wirtschaft in kleineren Schritten zu liberalisieren verspricht, machte das Rennen, mit neun Prozentpunkten Vorsprung. Doch eigentlich sind die Würfel bereits im letzten August gefallen, als Bolivien eine erdrückende rechte Mehrheit in den beiden Parlamenten wählte. Die Sozialisten des Evo Morales sind in der Legislative kaum noch vertreten.
Tatsächlich hat Bolivien gar keine andere Wahl. Nach zwei Jahrzehnten Evo-Sozialismus ist das Andenland bankrott, wirtschaftlich wie moralisch. Bolivien fehlen die Devisen für den Import von Treibstoff, Medikamenten und Grundnahrungsmitteln. Rien ne va plus, das Land steht buchstäblich still. Das jährliche Staatsdefizit beläuft sich auf rund zehn Prozent des Bruttosozialprodukts, die Inflation bewegt sich im zweistelligen Bereich, niemand leiht Bolivien noch Geld oder würde im Land investieren.
Die Staatskassen sind leer, die sozialistische Regierung unter Luis Arce hat sich in der Not an den privaten Ersparnissen und Pensionskassengeldern seiner Bürger vergriffen. Rund die Hälfte von rund 27 Milliarden Dollar an Altersguthaben ist mittlerweile weg. Die Defizite der durch und durch korrupten Staatsbetriebe haben diese Milliardenbeträge längst ohne jeden Mehrwert aufgefressen.
Narco-Staat und Korruption
Das Einzige, was man dem noch bis zum 8. November regierenden sozialistischen Regime unter Luis Arce noch zugutehalten kann: Es hat die Wahlen wenigstens zugelassen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Auch wenn sich der Justizflüchtling Evo Morales bei den Narcos im Amazonas verschanzt hat, die Leute seiner sozialistischen MAS-Bewegung haben die Institutionen des Landes – die Justiz, die Verwaltung, das Militär – bis in ihr Innerstes durchdrungen. Und sie werden ihre Pfründe und Privilegien nicht kampflos aufgeben. Evos Schlägertrupps sind nach wie vor in der Lage, das Land mit Straßensperren monatelang lahmzulegen und auszuhungern, wie sie kürzlich wieder bewiesen haben.
Bolivien befand sich auf direktem Weg, zu einer korporatistischen Narco-Diktatur nach venezolanischer Bauart zu verkommen, mit politischen Häftlingen und Vertriebenen hinter einer pseudodemokratischen Fassade.
Mächtige Verbündete bewahrten Morales vor dem Gefängnis
Daß es nicht so weit gekommen ist, liegt zum Teil am eigentümlichen Charakter eines Landes, das gemäß einem Bonmot mehr Staatsstreiche verzeichnet als Jahre der Unabhängigkeit. Das ist zwar leicht übertrieben, tendentiell aber zutreffend. Evo Morales konnte sich nicht zuletzt so lange halten, weil er dem Land eine gewisse Stabilität brachte. Doch als er diktatoriale Züge entwickelte und sich nicht mehr an die demokratischen Regeln hielt, wurde er nach dem Wahlbetrug von 2019 weggefegt.
Nur dank internationaler Hilfe seiner Verbündeten in Venezuela, Kuba, Rußland und China sowie der Kokain- und Rohstoffmafias entrann er dem Gefängnis. Doch aus dem Hintergrund zog der begnadete Demagoge und instinktsichere Autokrat weiterhin alle Fäden der Politik. Daß diese Ära nun ein Ende zu nehmen scheint, hat aber auch damit zu tun, daß sich der Wind in ganz Amerika gedreht hat. Der „Socialismo del Siglo XXI“ ist grandios gescheitert. Und in den USA ist eine Regierung an der Macht, die den südlichen Nachbarn wieder Beachtung schenkt und alles daransetzt, dem stillen Vormarsch der Chinesen auf dem Kontinent Einhalt zu gebieten.
Falscher Mythos vom edlen Wilden
Wie Hugo Chávez in Venezuela genoß auch Evo Morales in Bolivien anfänglich eine überwältigende Popularität. Während gut eines Jahrzehnts schien das sozialistische Modell gut zu funktionieren. Dank gewaltiger Erdgasvorkommen, die seine Vorgänger erschlossen hatten, konnte Evo Morales reichlich Geld verteilen. Verstaatlichungen und eine antikapitalistische Rhetorik seines Regimes vertrieben zwar internationale Investoren. Doch Morales hütete sich lange vor Schulden.
Das änderte sich vor etwa zehn Jahren, als der Ausstoß von Erdgas zu schrumpfen begann. Nicht, daß die Vorräte erschöpft gewesen wären. Evos Bürokraten hatten es schlicht unterlassen, die Anlagen zu erneuern und neue Quellen zu erschließen. Dasselbe Phänomen war bei allen Staatsbetrieben zu beobachten: Die Funktionäre, die aufgrund eines Parteibuches statt ihrer Kompetenz angeheuert wurden, beuteten die Unternehmen aus, ohne in eine Erneuerung zu investieren. Ein leuchtendes Beispiel ist der Abbau von Lithium, mit dem Bolivien reich gesegnet wäre. Statt bloß Lithium zu gewinnen, wollte Bolivien Batterien bauen. Am Ende importierte man Lithium aus China, um einige wenige überteuerte und hoffnungslos veraltete Akkumulatoren Made in Bolivia herzustellen.
Die indigene Aura, die Evo Morales aufbaute, verschaffte ihm eine Art Immunität. Obwohl der Mestize nicht einmal eine der indigenen Sprachen beherrscht, machte ihn der Nimbus des seit Urzeiten unterdrückten und ausgebeuteten edlen Wilden unangreifbar. Die verlogene Masche funktionierte auf internationaler wie auf nationaler Ebene. Wer es im bolivianischen Staat zu etwas bringen wollte, mußte aus armen Verhältnissen stammen, indigene Gesichtszüge aufweisen, ein Mangel an Bildung galt als Qualifikation. Und wer etwas daran auszusetzen hatte, galt als Rassist und Unterdrücker. Am selbstgeschaffenen Elend, das daraus resultierte, waren selbstredend die anderen schuld: allen voran das böse Imperium (womit selbstredend die USA gemeint sind), die Weißen, die Reichen.
Früchte der Liberalisierung
Das Perfide am Socialismo del Siglo XXI ist, daß er sich zu einer Zeit über ganz Lateinamerika ausbreitete, als die Wirtschaft nach der großen Liberalisierungswelle der 1990er Jahre von den Linken beschimpft als „Neoliberalismus“ – einigermaßen im Lot war. Die Rohstoffindustrie florierte und füllte die Staatskassen, man konnte es sich leisten, Geld zu verteilen und die Parteigänger und Wähler bei Laune zu halten. Der dadurch ausgelöste Konsum sorgte zwar kurzfristig für Wachstum, doch neue Investitionen blieben aus.
Eine Flut von Gesetzen, Verstaatlichungen, neuen Steuern und Regulierungen sollte für eine Umverteilung des Reichtums sorgen, doch stattdessen förderte sie die Korruption und eine Kaste von Funktionären, die vor allem für ihre eigenen Vorteile sorgte.
Bolivien endete wie alle sozialistischen Projekte
Der indigene Sozialismus des Evo Morales endete, wie noch jedes sozialistische Experiment in Lateinamerika endete: Elend und Chaos. Genau wie in Allendes Chile, dem Argentinien der Peróns und Kirchner, Castros Kuba, dem Venezuela von Chávez und Maduro oder Velascos Peru stehen die Bolivianer heute mehrere Tage lang Schlange, um ihren Tank mit Treibstoff zu füllen oder lebenswichtige Medikamente zu ergattern. Theoretisch sind die hoch subventionierten Produkte des Alltagsbedarfs für alle erschwinglich, im real existierenden Sozialismus sind sie jedoch nur über den Schwarzmarkt zu beschaffen, für ein Vielfaches des Marktpreises.
Doch schuld am Desaster ist nicht der Sozialismus, sondern der Spekulant und der internationale Kapitalismus. Und wenn nach dem absehbaren Staatsbankrott eine rechte Regierung den geerbten Schlamassel aufräumt, was naturgemäß mit Härten und unpopulären Sparmaßnahmen verbunden ist, dann ist es der Beweis, wie herzlos, unsolidarisch und brutal das kapitalistische System doch ist.
Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Weltwoche erschienen, die JUNGE FREIHEIT veröffentlicht ihn mit Zustimmung des Autors.