Die Ampel ist vorbei – die Deindustrialisierung geht weiter. Das fürchten die vier Betriebsräte Dirk Vogeler (ArcelorMittal Eisenhüttenstadt), Enrico Symanzig (BASF Schwarzheide), Uwe Teubner (LEAG) und Toralf Smith (Lausitz Energie) sowie die Gewerkschaftlerin Stephanie Albrecht-Suliak (IGBCE Nordost), die am 3. Juli unter dem Titel „Es ist 5 nach 12 – deshalb Industriearbeitsplätze JETZT!“ einen Brief an Friedrich Merz veröffentlichten: „Wir befinden uns in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein im letzten Jahr wurden mindestens 100.000 Industriearbeitsplätze ersatzlos abgebaut. Die politischen Versprechungen der letzten Bundesregierung eines ‘grünen Wirtschaftswunders’ sind nur Schall und Rauch.“
Die Energiewende als „eine Operation am offenen Herzen unserer Volkswirtschaft“ sei mißlungen: „Der Doppelausstieg aus Kernenergie und Kohle hat Deutschland abhängig gemacht von unzuverlässigem Photovoltaik- und Windstrom und teuren Gasimporten. Die Zeche zahlen wir mit den europaweit höchsten Strompreisen.“
Schwarz-rote Regierung führt Deindustrialisierung der Ampel fort
Sie fordern daher international wettbewerbsfähige Strompreise ohne „politische CO₂-Kosten“ und ein Kraftwerksmoratorium: „Vor dem Abschalten muß erst neue gesicherte Leistung zur Verfügung stehen.“ Es müsse Schluß sein mit dem planlosen Zubau bei Sonne und Wind – es dürfe nur noch Genehmigungen „für netzverträgliche Investitionen“ geben.
Aber der schwarz-rote Koalitionsvertrag ist klar auf Ampel-Kurs: „Wir stehen zu den deutschen und europäischen Klimazielen.“ Dafür verfolge man weiter „das Ziel der Klimaneutralität 2045“. Man halte an der „CO₂-Bepreisung als zentralem Baustein“ fest. Doch „dauerhaft niedrige und planbare, international wettbewerbsfähige Energiekosten“ sind mit „Sonnen- und Windenergie sowie Bioenergie, Geothermie, Wasserkraft“ oder Wasserstoffmolekülen praktisch unmöglich.
Es ist ein tiefschwarzer Tag für das Chemiecluster Mitteldeutschland
Der US-Chemiekonzerns Dow hat das erkannt und am 7. Juli angekündigt, einen Teil seiner Anlagen in Böhlen und in Schkopau bis Ende 2027 zu schließen. „Heute ist ein tiefschwarzer Tag für das Chemiecluster Mitteldeutschland“, erklärte IGBCE-Chef Michael Vassiliadis. Die Auswirkungen seien „verheerend – nicht nur für die 550 unmittelbar betroffenen Beschäftigten an den beiden Standorten, sondern für die gesamte Region“, so der in Essen geborene SPD-Genosse und Chemielaborant.
Auch in Vassiliadis’ Heimat NRW sind noch viel mehr Industriearbeitsplätze in Gefahr. In einem Brandbrief wandten sich am 30. Juni der CDU-Landrat des Kreises Recklinghausen, Bodo Klimpel, sowie die vier SPD-Bürgermeister aus Gelsenkirchen, Gladbeck, Herne und Marl direkt an die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche. Der Inhalt ihres Schreibens ist trotz der zurückhaltenden Worte brisant, weil er die typische Situation einer westdeutschen Industrieregion kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps zutreffend beschreibt.
Der Niedergang der Chemieindustrie begann bereits zu Zeiten von Angela Merkel, die die rot-grüne Energiewende konsequent fortsetzte. Seit den Ampel-Jahren werden neue Anlagen nur noch als Ersatz und in Verbundsystemen errichtet. Alle anderen Investitionen in neue Technologien und Anlagen fließen ohne Subventionen aus Deutschland ab. Im Herbst 2024 warnte der Industrieverband BDI vor dem Verlust von 20 Prozent der industriellen Wertschöpfung.
Kommunalpolitiker befüruchten Kettenreaktion
Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) forderte schon in seinem Politikbrief (9/24) ein „konkurrenzfähiges Energiesystem aus einem Guß, einen Turbo für Innovationen, Genehmigungen und Bürokratieabbau, weniger kleinteilige Regulierung und einen Steuerbooster für Unternehmen“. All das sind Forderungen, die auch mit den Merkel-Regierungen vor der Ampel nicht umsetzbar gewesen sind. Landrat Klimpel und die Bürgermeister hoffen offenbar auf die Diplom-Chemikerin Reiche und schildern ihr eine typische Situation:
Ein regionaler Zweckverbund der chemischen Industrie meldet eine Auslastung von weniger als 75 Prozent aller Anlagen der beteiligten Unternehmen über alle Fertigungsstufen hinweg. Betroffen ist allerdings nicht nur der industrielle Mittelstand. Auch die Grundstoffindustrie in Form von BP kündigte bereits im Februar an, die Raffinerie in Gelsenkirchen verkaufen zu wollen. Als Begründung nannte der britische Konzern die spezifisch in Deutschland zu hohen Kosten, welche zugleich die Käufersuche erschwerten.
In Gladbeck droht eine Werksschließung durch den englischen Ineos-Konzern. Betroffen ist eine erst 2023 eingeweihte und sogar CO₂-sparende neue Anlage zur Cumol-Produktion. Die Kommunalpolitiker verweisen ausdrücklich auf die Vernetzung der Produktionen durch regionale Pipelines und die zu erwartende Kettenreaktion. Der geforderte Industriestrompreis, Subventionen zur Investitionsabsicherung über „Klimaschutzverträge“ und eine dauerhafte Senkung der Netzentgelte müßten allerdings anderweitig finanziert werden: Die Maßnahmen würden die Kosten der Petrochemie senken – allerdings zu Lasten der anderen Stromverbraucher, Netznutzer und Steuerzahler.
Kostenverlagerung auf andere Verbraucher und die Steuerzahler?
Keine der Maßnahmen ändert etwas am Kernproblem, dem deutschen und westeuropäischen Wahn, die Industrie ohne Grundlastfähigkeit nur mit Ökostrom versorgen zu wollen. Obwohl die westdeutschen Lokalpolitiker auf Grundsatzforderungen à la AfD oder IGBCE Nordost verzichtet haben, ist eine Umsetzung ihrer Wünsche durch die CDU-Wirtschaftsministerin kaum zu erwarten. Neue Subventionen dürften angesichts der Diskussion um die ausbleibende Senkung der Stromsteuer für Verbraucher und Mittelstand nicht aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren sein.
Dies gilt auch für eine Subvention des industriellen Stromverbrauchs über einen Sondertarif. Netzentgelte werden in Deutschland von der Bundesnetzagentur für die Netzbetreiber kostendeckend und mit vorgegebenen Effizienzsteigerungen vergeben. Ein politischer Eingriff hier ist also gleichbedeutend mit einer reinen Verlagerung der Kosten auf andere Verbraucher oder den Steuerzahler, der bereits die gesamten Kosten der „erneuerbaren“ Energien finanziert.
Das Ifo-Institut ist nicht ganz so pessimistisch. Die Münchner Ökonomen sehen sogar einen Stimmungsumschwung der chemischen Industrie aufgrund der Hoffnung auf sinkende Energiepreise. Der Ifo-Geschäftsklimaindex sei von –16,2 im Mai auf –8,9 im Juni gestiegen. Das ist jedoch immer noch weit entfernt von einem positiven Wert. Dies ficht die Wirtschaftsforscher in ihrem Optimismus allerdings nicht an. Entsprechend werden sich die NRW-Kommunalpolitiker wie die Betriebsräte im Osten auf einen bestenfalls nichtssagenden Antwortbrief einstellen müssen. Ihre Probleme sind für die Bundesregierung wie die Leitmedien ebensowenig ein drängendes Problem wie die erneute Rekordzahl an Insolvenzen in Deutschland.