Heutige Demokratien schwören auf Offenheit und Transparenz, dementsprechend agieren sie gern in Bauten, bei denen Glas das hervorstechende Mittel der Gestaltung ist. Gerade die wiedervereinte Bundesrepublik setzt auf diese „demokratische Architektur“: In ihr soll sich der antitotalitäre Lernprozeß, das „Nie wieder“ in Glas gemeißelt zeigen.
Allerdings: Auch Treibhäuser werden aus Glas errichtet. Deren Transparenz dient dazu, für Nährmittel (hier in Form von Licht) durchlässig zu sein, auf daß sich die Gewächse ungestört ihrer Entfaltung widmen können. Ungefilterte Einflüsse von außen sind daher nicht erwünscht; sie würden das geschlossene System nur stören.
In einem solchen System bewegt sich auch Keetenheuve, der vielleicht bekannteste Bundestagsabgeordnete der deutschen Literatur. Sein Schicksal, besser gesagt: dessen Klimax, beschreibt Autor Wolfgang Koeppen im Roman „Das Treibhaus“ von 1953: Während der Weimarer Republik Journalist, war Keetenheuve bei Machtübernahme der Nationalsozialisten ins selbstgewählte Exil gegangen und hatte für die Londoner BBC gearbeitet. Bei Kriegsende ins geteilte Deutschland zurückgekehrt, wollte er „neue Grundlagen des politischen Lebens“ schaffen. Als Hoffnungsträger der Oppositionspartei zog er in den neu formierten Bonner Bundestag ein.
Gefangen in Gefühlen von Schuld und Versagen
Der Roman erzählt, angereichert durch zahlreiche Rückblenden, wie nur wenige Tage Keetenheuves Schicksal besiegeln. Ausgerechnet im Nibelungenexpreß reist er zurück nach Bonn; „Wagalaweia“ singen die Räder und allenthalben riecht Keetenheuve politische und gesellschaftliche Restauration. Persönlich ist er gefangen in Gefühlen von Schuld und Versagen, mußte er doch soeben seine junge Frau Elke beerdigen. Er hatte sie, die Tochter von NSDAP-Funktionären, zwar aus Ruinen aufgelesen und geheiratet, aber keine tragfähige Ehe entstehen lassen – zu wichtig war ihm die politische Arbeit.
Elke wurde Alkoholikerin, suchte Schutz bei einer „pervertierten Frauenschaftsführerin“ und starb dennoch „an Verlassenheit“. Mit ihr starb auch Keetenheuves Chance, anzukommen, Wurzeln zu schlagen in einem bürgerlichen Leben. Jedoch ist Bürgerlichkeit ohnehin nicht das Lebensprinzip des Feingeistes und Ästheten mit einem Faible für die Poesie von Baudelaire und E. E. Cummings.
Keetenheuve, der seinen lang kultivierten Idealen von Pazifismus und Antinationalismus anhängt (Nationalstaaten sieht er als verschlossene Käfige), blieb auch in der eigenen Fraktion ein Sonderling und Außenstehender. Um so wichtiger ist nun für ihn die Abstimmung über die Wiederbewaffnung Westdeutschlands: Für eine geplante Gegenrede erhält er brisantes Material – immerhin steht er im Ruf, ein Revolutionär, ein Umstürzler zu sein – mit dem ein politischer Eklat provoziert werden soll allein: Regierung wie Medien wurden über zweifelhafte Kanäle vorab informiert und zeigen sich gewappnet. Der Überraschungseffekt verpufft. Erneut scheitert Keetenheuve.
„Das Treibhaus“ als Spiegel der Nachkriegsgesellschaft
Der Roman endet in einem wahren Hexensabbat, einem persönlichen Armageddon. Als innerer Monolog gestaltet, offenbart sich eine albtraumartige Verworfenheit; Keetenheuve versinkt in den eigenen Abgründen aus Lust und Schuld – und letztlich im Rhein. Wagalaweia.
Bei seinem Erscheinen wurde „Das Treibhaus“ kontrovers diskutiert, vorwiegend auf seiner politischen Ebene. Umgehend wurden die Romanfiguren mit realen Personen der Regierungszeit Adenauers gleichgesetzt.
Der Spiegel lobte die Schilderungen als „symptomatisch für die bundesrepublikanische Aufbau- und Aufstiegsgesellschaft“ und deren restaurative Tendenzen: Da – möglicherweise sozialistische – Alternativen nicht einmal diskutiert werden dürften, entstehe soeben eine weitere Diktatur, wenn auch unter dem Deckmantel der demokratischen Mehrheitslegitimation. Andere Stimmen sahen im Treibhaus ein Zerrbild der jungen Demokratie, das eine gesellschaftliche Polarisierung wie zur Weimarer Zeit ermögliche.
Einer Zeit, in der Wolfgang Koeppen (1906–1996) sozialisiert wurde: Aus prekären Verhältnissen stammend, verdingte er sich zunächst in verschiedenen Brotjobs; eine Theaterlaufbahn als Dramaturg und Regisseur scheiterte. Als er sich gerade bis zum Feuilletonchef der linksliberalen Tageszeitung Berliner Börsen-Curier hinaufgearbeitet hatte, wurde diese 1933 eingestellt. Koeppen ging ins Ausland und veröffentlichte erste Romane, kehrte aber 1938 nach Deutschland zurück und arbeitete als Drehbuchautor für Ufa und Bavaria Filmkunst.
Koeppen knüpfte an die literarische Moderne an
Erst in der Nachkriegszeit machte er mit seiner „Trilogie des Scheiterns“ (Tauben im Gras, 1951, Das Treibhaus, 1953, und Der Tod in Rom, 1954) von sich reden. Danach verfaßte er ausschließlich – wenn auch gelobte – Reiseberichte. Ein mit dem Suhrkamp-Verlag abgeschlossener Vertrag über ein autobiographisch angelegtes deutsches Geschichtspanorama blieb unerfüllt; womöglich waren sein „Wissen und seine Erfahrungen zu differenziert für das angesagte ideologische Schema“ (Thorsten Hinz).
Marcel Reich-Ranicki erklärte Koeppens Verstummen 1961 als eine Folge der Zurückweisung und des Unverständnisses gegenüber dem „Einzelgänger in der deutschen Nachkriegsliteratur“ und beförderte damit dessen Wiederentdeckung. Mit Erfolg: 1962 erhielt der Autor den maßgeblichen Georg-Büchner-Preis, dem eine breite positive Rezeption folgte. Er gehörte nun zu den wichtigen Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur.
Grund dafür ist durchaus, daß Koeppen an die literarische Moderne anschloß, indem er virtuos mit ineinander verflochtenen Erzählsträngen, assoziativen Passagen und einem kaum unterbrochenen inneren Monolog aus bisweilen bitter-komischen Assoziationen arbeitete. Darüber hinaus wurde er rückblickend als – wenn auch erfolgloser – Streiter gegen die als restaurativ empfundene Politik der Bundesrepublik gehandelt. Der Autor, beziehungsweise sein Protagonist Keetenheuve, galt nun als tragischer Held im Kampf gegen den „Muff von tausend Jahren“ sowie jede Form von militärischer Aufrüstung.
Für den normalen Wähler empfindet der Ästhet Abscheu
Eine Sichtweise, die fortgeschrieben wurde. Angesichts des Nato-Doppelbeschlusses zur atomaren Aufrüstung griff der Filmregisseur Peter Goedel zum Treibhaus. Die gleichnamige Verfilmung von 1987 kombiniert die in Schwarz-Weiß-Aufnahmen erzählte Geschichte Keetenheuves mit aktuellem dokumentarischen Material, darunter Bilder der Friedensdemonstration von 1981 im Bonner Hofgarten – und erhielt den renommierten Bundesfilmpreis.
Ebenfalls im Film enthalten ist ein Interview mit dem damals über 80jährigen Autor. Koeppen betont hier, er habe kein politisches Buch geschrieben, sondern sich vielmehr in die Person des fiktionalen Abgeordneten einzufühlen versucht. Einem „unglücklichen Menschen“, der das Geschehene „wieder gut machen will“. Denn wie der Roman verrät, hatte sich Keetenheuve „immer schon abseits gehalten, mimosenhaft verzärtelt, im Elfenbeinturm“, hatte nie für etwas gekämpft. Nun will er in der Politik seine pazifistischen „Jugendträume verwirklichen“ – doch die Menschen „dachten gar nicht daran, andere zu werden, weil die Regierungsform wechselte“.
Für den Mann von der Straße, den normalen Wähler, empfindet der Ästhet daher Abscheu; ihm graut vor der „Ochsentour der Wahlschlacht“ in häßlichen, mit dem Dunst von Schweiß und Bier angefüllten Sälen. Ohnehin: „Als Redner überzeugte er nicht. Die Menge ahnte, er zweifelte, und das verzieh sie ihm nicht.“ Tatsächlich ist Selbstzweifel die Grundstimmung Keetenheuves, gepaart mit Melancholie und Ekel – vor sich selbst wie auch den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten: „Deutschland war ein großes, öffentliches Treibhaus. Es war alles morsch, es war alles alt.“ Die Regierung litte „an der deutschen Krankheit, unter keinen Umständen an der einmal gehabten Vorstellung von der Welt zu lassen“. Eine Einsicht, die raum-, zeit- und parteiübergreifend auch heute noch zu gelten scheint.
Ein „Mephistopheles des guten Willens“
Keetenheuve versagt in allem, was ihm erstrebenswert erscheint: in Politik, Liebe, Gemeinschaft, ja selbst in der Poesie. Zu hoch ist sein Anspruch an sich und seine Umwelt, zu elitär seine Ideale. Zu utopisch auch sein Wunsch nach Pazifismus und immerwährendem Frieden: Er nennt sich selbst einen faustischen „Mephistopheles des guten Willens“, der das Gute wolle und das Böse schaffe. Nach seiner erfolglosen Bundestagsrede gibt Keetenheuve sich geschlagen: „Die Verhältnisse hatten ihn besiegt, nicht die Gegner. Die Gegner hatten ihn kaum beachtet. Die Verhältnisse waren das Unabänderliche. Sie waren die Entwicklung. Sie waren das Verhängnis.“
Inzwischen haben sich die Verhältnisse selbstredend verändert. Empfindlichkeit und literarische Ambitionen hindern nicht mehr daran, einen hohen politischen Posten einzunehmen. Die einstmals widerstreitenden Parteien sind sich längst nah und näher gekommen und kämpfen – vom Diktat des Demos unberührt – gemeinsam für „unsere“ Demokratie. Das Gefühl von Zweifel oder gar Schuld angesichts der eigenen Handlungen scheint aktuellen Regierungsvertretern gänzlich fremd. Hier gilt weiterhin Keetenheuves Wort: Umzingelt von der Wirklichkeit, sind es wiederum die Verhältnisse, die alle moralisch guten Vorhaben zunichte machen.