Der Weg der Europäischen Währungsunion in eine Haftungsgemeinschaft war nicht vorgezeichnet. Als im Frühjahr 2010 Griechenland vor dem Staatsbankrott stand, hat Finanzminister Wolfgang Schäuble für einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone plädiert, weil es über eine Abwertung der griechischen Drachme internationale Konkurrenzfähigkeit zurückgewinnen und internationale Investoren anziehen könne.
Die Bundeskanzlerin hat dies in ihrer Regierungserklärung vom 17. März 2010 aufgegriffen: „Bundesfinanzminister Schäuble hat Vorschläge gemacht, daß wir für die Zukunft ein Vertragswerk bekommen, aufgrund dessen es als Ultima ratio sogar möglich ist, ein Land aus dem Euro-Raum auszuschließen, wenn es die Bedingungen langfristig immer wieder nicht erfüllt. Sonst kann man nicht zusammenarbeiten.“ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Alle Welt erwartete, daß das Rettungspaket abgesegnet wird
Ein Ausscheiden Griechenlands lag aber nicht im Interesse französischer, deutscher und auch britischer Geschäftsbanken; sie hätten erhebliche Verluste hinnehmen müssen. Die entscheidende Schlacht wurde in Brüssel in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 2010 geschlagen. Angela Merkel war aus Berlin mit einem Rettungsprogramm für Griechenland angereist, das Bundestag und Bundesrat Freitag morgen, den 7. Mai, verabschiedet hatten und das Horst Köhler, der damalige Bundespräsident, unterschreiben mußte, ohne einen Blick in das Gesetzespaket werfen zu können.
Alle Welt erwartete, daß die Regierungs- und Staatschefs dieses Rettungspaket absegnen würden. Am Morgen des 8. Mai kam die für alle überraschende Nachricht, daß die Staats- und Regierungschefs nicht bloß das Griechenlandprogramm, sondern auch einen Rettungsschirm in Höhe von 750 Milliarden Euro beschlossen hatten; hierunter konnten alle Mitgliedstaaten schlüpfen, für die der Kapitalmarkt zur Finanzierung ihrer Staatsschulden verschlossen war.
Schäuble zur Unzeit im Krankenhaus, Merkel in Moskau
Wie dieses Ergebnis zustande gekommen ist, ist geheim geblieben. Es gibt keine der Öffentlichkeit zugängliche Dokumentation. Vermutlich gab es vorher Absprachen zwischen interessierten Ländern und Parteien, und die Lobbytätigkeit der Großbanken muß stark gewesen sein. Offensichtlich war die Kanzlerin nicht eingeweiht worden. Wolfgang Schäuble als verantwortlicher Finanzminister war aus Gesundheitsgründen außer Gefecht gesetzt. Auf dem Wege nach Brüssel landete er nach einer geradezu dramatischen Odyssee in einem belgischen Krankenhaus. Die Ärzte verboten ihm strikt, in das Verhandlungsgeschehen einzugreifen.
Die Kanzlerin selbst war nach der entscheidenden Nacht nach Moskau zur Feier der deutschen Kriegskapitulation geflogen. Sie hatte zuvor noch eine Vertretung für Schäuble organisiert und Innenminister Thomas de Maizière in die Sitzung geschickt. Natürlich war der nicht eingearbeitet und mußte sich auf das Urteil seiner Beamten verlasen. Ob die Brüsseler Nacht und die folgenden Beschlüsse bei Schäubles Präsenz anders verlaufen wären, kann man nicht wissen. Aber es zeigt sich doch deutlich, von welchen Unwägbarkeiten die Entscheidung abhing, die das europäische Schicksal bestimmt.
Der Bruch mit der „No-Bailout-Klausel“
Schäuble sah die Brüsseler Beschlüsse kritisch, wie er in einem späteren Interview bestätigt hat. Er sei damals von seiner Meinung überzeugt gewesen; andererseits habe er immer großen Respekt davor gehabt, daß die Bundeskanzlerin die vielen Einzelteile zusammenfügen müsse. Er hat sich schließlich gefügt und um des Ganzen willen loyal mitgearbeitet. Den Bruch der „No-Bailout-Klausel“ – weder die Gemeinschaft noch die Mitgliedstaaten treten für die finanziellen Verpflichtungen eines Mitgliedstaates ein (Art. 125 AEUV) – hat Schäuble mit einem semantischen Trick gerechtfertigt: Kein Mitgliedsland dürfe zu finanziellen Verpflichtungen herangezogen werden, es sei denn, sie täten es freiwillig.
Um Zweifler und Zögernde zu beruhigen, sollten die Brüsseler Beschlüsse nur vorübergehend gelten. So hat Wolfgang Schäuble auf die skeptische Frage, ob die Rettung eines Mitgliedstaats vor dem Staatsbankrott in alle Ewigkeit weitergehe, geantwortet: „Die Rettungsschirme laufen aus. Das haben wir klar vereinbart.“ Es kam anders: Die Rettungsschirme sind zu einer dauerhaften Institution, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), umgewandelt worden.
Mit dem Bruch der „No-Bailout-Klausel“ und dem Aufspannen des Rettungsschirms vollzog sich ein Wechsel von einer marktwirtschaftlichen zu einer sozialistischen Währungsordnung. Wer Haftung abschafft, beseitigt letztlich auch die Verantwortung von Individuen, aber auch von Staaten. Da weder Bürger noch Regierungen Geld in ein offenes Loch schütten wollen, so müssen diejenigen kontrolliert und zu Einhaltung der Vorgaben angehalten werden, die Gelder zur Finanzierung ihrer Existenz erhalten.
Christine Lagarde: „Wir mußten die Verträge brechen, um den Euro zu sichern“
Die damalige französische Finanzministerin, Christine Lagarde, hat den Brüsseler Staatsstreich von oben klar benannt: Wir mußten die Verträge brechen, um den Euro zu sichern. Genau deswegen sind Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen verschiedene Rettungspakete, gegen die Übernahme der Bürgschaften für überschuldete Mitgliedstaaten durch die EZB und gegen deren Programm zum Ankauf von Staatsanleihen angestrengt worden.
Wolfgang Schäuble hat als Finanzminister an den Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht selbst teilgenommen. Seine Argumentation vor dem Gericht fußte auf zwei Säulen: Eine Abgabe geldpolitischer Souveränität sei letztlich ein Souveränitätsgewinn und Deutschland profitiere von allen Mitgliedstaaten am meisten vom Euro. Nach Delegation von Souveränität an die Europäische Zentralbank (EZB) handele diese auch im nationalen Interesse; vor allem im internationalen Konzert sei die europäische Stimme deutlicher als die jeweiligen nationalen Stimmen zu vernehmen. So erweise sich der Verzicht auf Souveränität in Wirklichkeit als Souveränitätsgewinn. Diese Auffassung gilt aber nicht, wenn die Interessen in der Eurozone auseinandergehen. Das konnten wir seinerzeit bei der Geldpolitik Mario Draghis, des früheren Präsidenten der EZB, beobachten, gegen die sich Jens Weidmann, der frühere Präsident der Deutschen Bundesbank, vergeblich stemmte.
Draghi betrieb eine Politik für die überschuldeten Mitgliedstaaten der südlichen Peripherie, die aber bei uns zu strukturellen Fehlentwicklungen führte. Für die Währungsunion gilt eben nicht: „One size fits all.“ Genau dies hat Schäuble auf einem Treffen von Unternehmensvertretern der zwanzig wichtigsten Wirtschaftsnationen in Berlin (3. Mai 2017) ausgedrückt: Draghis ultralockere Geldpolitik fördere das Eingehen übermäßiger Risiken, die Selbstzufriedenheit der Politik, Preisblasen und den Fehleinsatz von Kapital in Vermögenswerten.
Die große Weichenstellung für die Währungsunion kam 2015
Schäubles zweites Argument, Deutschland profitiere vom Euro am meisten, sollte das deutsche Publikum beruhigen, wurde aber auch von Politikern in den Ländern gehört, die vom Euro am wenigsten profitieren, weil sie unter einem für sie zu hoch bewerteten Euro leiden. Wahrscheinlich wird Schäuble oft von Kollegen gehört haben: Wenn Deutschland am meisten vom Euro profitiere, warum steht ihr nicht von euren Geldsäcken auf und öffnet sie?
Vor einer möglichen Weichenstellung stand die Währungsunion im Juli 2015. Die Eurogruppe beriet über die weitere Finanzierung Griechenlands. Für die meisten Mitglieder waren die bisherigen Reformbemühungen Griechenlands nicht überzeugend. Es ist wahrscheinlich, daß sich Schäuble als einflußreicher Wortführer in der Euro-Gruppe auf seine Einschätzung aus dem Jahre 2010 besonnen und seine Kollegen überzeugt hat: Nach dem Ausscheiden aus der Eurozone werde eine unvermeidliche und notwendige Abwertung Griechenland wieder wettbewerbsfähig machen und internationale Investoren anziehen.
Schäubles Warnungen – für Frankreich nur „kikeriki“
Es sprachen sich 15 Mitgliedstaaten gegen eine weitere Kreditierung Griechenlands aus; dann hätte es die Eurozone verlassen müssen. Vier Staaten – Frankreich, Italien, Griechenland und Zypern – waren dafür. Daraufhin ist der damalige französische Staatspräsident, François Hollande, nach Berlin zu Angela Merkel gefahren.
Sie hat sich überzeugen lassen, daß Griechenland Mitglied der Eurozone bleiben müsse; sein Ausscheiden hätte den Märkten signalisiert, daß die Währungsunion doch nicht unauflöslich sei. Schäuble beugte sich. François Hollande hat auf die Frage, ob ihm das Einschwenken Schäubles auf seine Position Genugtuung verschaffe, geantwortet: Ja, es freue ihn, daß sich die europäische Idee durchgesetzt habe, aber deswegen müsse er doch nicht „kikeriki“ krähen.
Hätte der „Grexit“ die Schuldenunion verhindert?
Inzwischen hatte sich Schäuble wieder in Angela Merkels Linie eingereiht: „Griechenland ist auf einem ordentlichen Weg, sich auf den Märkten selbst zu finanzieren. Deshalb hilft eine Debatte, ob der Grexit besser wäre, heute überhaupt nichts mehr.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang die Feststellung des Internationalen Währungsfonds, daß die Mitglieder der Eurogruppe inzwischen nicht mehr bereit seien, über Vor- und Nachteile Griechenlands zu debattieren. Ihnen ist das Festhalten an einer fehlkonstruierten Währungsunion wichtiger als das Schicksal der Völker.
Hätte Griechenlands Ausscheiden aus der Eurozone den Fortgang der Währungsunion verändern können? Die Entscheidung, die „No-Bailout-Klausel“ zu schleifen, und die spätere Übertragung des politischen Mandats an die EZB, die Eurozone zusammenzuhalten, wären faktisch rückgängig gemacht worden. Die griechische Regierung hätte die Verantwortung für die Gesundung des Landes selbst übernommen. Damit wären auch die verbleibenden Mitgliedstaaten mit der Aufgabe konfrontiert worden, wieder selbst für finanzielle Verpflichtungen einzustehen oder aus der Währungsunion auszuscheiden.
Weder harte Bandagen noch Aufpasser können Regeltreue erzwingen
Dies ist nicht geschehen. Die jüngsten Versuche, zum x-ten Male das finanzielle Ausgabengebaren der Mitgliedstaaten unter gemeinschaftliche Kontrolle zu bringen, wird wie bisher verlaufen: Solange ein Land in der Eurozone nicht Konkurs gehen soll, wird man eher finanziellen Beistand leisten als den Zusammenbruch der Währungsunion zu riskieren. Wahrscheinlich wird sich die Eurozone in Richtung eines italienischen Mezzogiorno entwickeln, wo der wirtschaftlich starke Norden den Süden dauerhaft subventioniert, ohne daß sich die Lage zum Besseren wendet.
Inzwischen müßten es auch die Regierungen wissen: Weder ein hartes Regelwerk noch Aufpasser können die notwendige Regeltreue erzwingen. Es ist wie bei einem Fußballspiel: Wenn bei einem Foul die gelbe Karte gezeigt wird, aber bei der nächsten Regelwidrigkeit keine rote Karte und damit der Platzverweis folgt, können noch so viele gelbe Karten gezogen werden; es wird sich nichts ändern.
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Prof. Dr. Joachim Starbatty, Jahrgang 1940, lehrte Volkswirtschaft an der Universität Tübingen, war Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und bis 2019 Mitglied des EU-Parlaments. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Zukunft der CDU (JF 34/23).