„Milan Kundera ist in der Tschechoslowakei geboren. Seit 1975 lebt er in Frankreich.“ Hinter dieser kargen Vita, der einzigen, die Milan Kundera für seine Buchveröffentlichungen freigegeben hatte, steckt das Leben eines mitteleuropäischen Intellektuellen: ein Leben zwischen politischer Unterdrückung und Aufbegehren, zwischen Identität und Geschichte. Und immer wieder geht es um Fragen der Liebe; Liebe als Lebensmotivation, als Flucht, als Rache, als Verrat.
Milan Kundera, 1929 als Sohn einer Bildungsbürgerfamilie im mährischen Brünn geboren, trat bald nach Kriegsende in die Kommunistische Partei ein. Rasch traten erste Konflikte inklusive eines zeitweiligen Parteiausschlusses auf, setzte er sich doch kritisch mit der Doktrin des Sozialistischen Realismus auseinander und sprach sich für nationale Werte und Patriotismus aus.
Der Prager Frühling prägte Kunderas Romane
In den sechziger Jahren gehörte der Autor zu jenen Intellektuellen, die für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eintraten und den Prozeß der Liberalisierung und Demokratisierung unterstützten. Schon sein erster Roman „Der Scherz“, 1967 in Prag erschienen, ist eine sarkastische Kritik an einem totalitären Regime, das nicht nur massiv in die privaten Belange seiner Bürger eingreift, sondern schon aufgrund nichtiger Unbotmäßigkeit deren Existenz zerstört.
Durch die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings – und damit auch dem Ende jeglicher Presse- und Kulturfreiheit in der Tschechoslowakei – verlor Kundera seine Dozentur an der Prager Akademie der musischen Künste, seine Bücher wurden aus der Öffentlichkeit entfernt.
Den Launen des Sozialismus ausgeliefert
Auch seine Romane „Das Leben ist anderswo“ und „Abschiedswalzer“, die die Beziehungen zwischen künstlerischer Avantgarde und revolutionärer Politik sowie die politische Willkür des kommunistischen Systems thematisieren, wurden erst in Frankreich veröffentlicht. Hier lebte Kundera gemeinsam mit seiner Ehefrau Věra Hrabánková seit 1975. Die Beobachtung des Autors durch den tschechoslowakischen Geheimdienst allerdings endete erst zehn Jahre später.
Seinen internationalen Ruhm begründete Kunderas 1984 erschienener Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“: In einer fulminanten Mischung aus Liebe, Erotik und Verrat erzählt er die Geschichte von der duldsamen Kellnerin Teresa und dem liebeshungrigen Chirurgen Tomáš, der – zu Zeiten des Prager Frühlings und seines gewaltsamen Endes – aufgrund einer politischen Äußerung seine Stellung als Chirurg verliert und fortan als Fensterputzer seinen zahlreichen amourösen Beziehungen nachgeht. Welche Entscheidungsmöglichkeiten bleiben dem Menschen angesichts restriktiver Politik? Gelingt eine Flucht in die Leichtigkeit des Seins oder empfindet man eben diese als unerträglich?
Psychologischer Scharfsinn trifft politische Schärfe
Milan Kundera beschäftigte sich mit den politischen und psychologischen Voraussetzungen, durch die Menschen zu Verrätern an ihren Werten, ihrer Liebe und letzten Endes an sich selbst werden lassen. Realer Verrat wurde auch ihm vorgeworfen: Er habe 1950 einen antikommunistischen Agenten denunziert, so der Historiker Adam Hradilek 2008. Ein von vielen Medien mit Eifer aufgegriffener Vorwurf, den Kundera vehement bestritt und der heute als widerlegt gilt.
Die Welt entwickelt sich nicht aus einer inneren Logik, einem Plan heraus. Das hat Kundera in seinen Romanen deutlich gemacht. Lebensentwürfe, Wünsche und Hoffnungen werden immer wieder durch Zufälle, unerwartete Wendungen und – natürlich – die Liebe vereitelt. Und dennoch stehen Kunderas literarische Figuren stets aufs Neue vor Entscheidungen, müssen das eine tun und das andere lassen. Ohne auch nur annähernd absehen zu können, zu welchen neuen Umständen, neuen Entscheidungen sie der zukünftige Lauf der Welt führen wird.
Keine Rückkehr in die Heimat
Als mehr oder weniger unverhofft der Ostblock zusammenbrach, entschied sich Kundera im Gegensatz zu vielen Exilanten nicht für eine Rückkehr nach Prag. Wie Irina, die Hauptfigur des 2000 erschienenen Romans „Unwissenheit“, wartete er nicht sehnsüchtig auf eine Anknüpfung an das Leben in der alten Heimat.
Sein ganz alltägliches Leben hatte er längst in Frankreich verwirklicht. Übrigens gab der tschechische Staat dem berühmten Autor erst 2019 die Staatsbürgerschaft zurück, die ihm 40 Jahre vorher aberkannt worden war. Kundera nahm sie an, allerdings reiste er dafür nicht nach Prag, sondern ließ sich das Dokument in seiner Pariser Wohnung überreichen.
„Die Bedeutungslosigkeit ist die Essenz der Existenz“
War er im Alter desillusioniert? Lange hatte Kundera für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gestritten und darüber seine frühere Existenz, seine alte Heimat verloren. In der Folge thematisierte er dieses Ziel immer wieder als eine Illusion, mit der er sich selbst getäuscht habe.
In seinem letzten Buch mit dem Titel „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ (erschienen 2014) läßt er vier alte Herren über das Leben und den ganzen Rest sinnieren: „Die Bedeutungslosigkeit ist die Essenz der Existenz“, heißt es da, selbst in blutigen Kämpfen und im schlimmsten Unglück. Einem eventuellen Bedürfnis nach Abrechnung begegnet Kundera darin mit Humor und Weisheit: „Nur von den Höhen der unendlichen guten Laune kannst du unter dir die ewige Dummheit der Menschen beobachten und darüber lachen.“
Kundera votierte für eine Leichtigkeit des Seins
In seinen Schriften befaßte sich Kundera mit dem Konflikt zwischen den Wünschen und Hoffnungen des Individuums und politischen Systemen, die sich – nicht selten in totalitärer Weise – der Bekämpfung jeglicher Individualität verschrieben hat. Es ist auch ein Nachdenken darüber, wie politischer Aktivismus – sei es von Intellektuellen, Künstlern oder Bürgern – dazu führen kann, daß sie den Repressionen ebenjener Systeme, die sie unterstützt oder denen sie gar an die Macht verholfen hatten, plötzlich selbst ausgeliefert sind.
Kundera votierte für eine Leichtigkeit des Seins, auch wenn sie noch so unerträglich sei. Denn: „Extreme markieren Grenzen, hinter denen das Leben zu Ende geht, und die Leidenschaft für Extreme, in der Kunst wie in der Politik, ist eine verschleierte Todessehnsucht.“ Am Dienstag, dem 11. Juli, ist Milan Kundera im Alter von 94 Jahren in Paris verstorben.