Zwei Monate nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad entschloß sich Thomas Mann im kalifornischen Exil, seinen letzten großen Roman in Angriff zu nehmen, den „Doktor Faustus“. 1947 vollendet, erzählt er, stark an Friedrich Nietzsches Biographie angelehnt, das Leben des fiktiven deutschen „Tonsetzers“ Adrian Leverkühn, der mit dem Teufel einen Pakt eingeht, um sich von ihm eine ein Vierteljahrhundert währende genialische Schaffenszeit garantieren zu lassen, die ihm die „Hegemonie im Reich der Musik“ sichern soll.
Thomas Manns Werkplan beschränkte sich nicht auf das Format einer „Künstler-Novelle“, sondern zielte auf nicht weniger als auf das Fresko einer „Seelengeschichte des deutschen Bürgertums“, ja des deutschen Volkes seit dem Mittelalter. Daher verwebt die Handlung die Vita des Komponisten und die unablässige Reflexion über deutsche Musik als die repräsentative Kunst der Deutschen mit deren politischer Geschichte.
Die Stalingrad-Katastrophe, die das letzte Kapitel der „Höllenfahrt“ des Dritten Reiches einläutete, war der eine der beiden zeithistorischen Auslöser des Roman-Unternehmens. Der andere, für Thomas Manns Konzeption wichtigere, war die im Januar 1943, parallel zum Schlußakt der Tragödie an der Wolga, abgehaltene Konferenz von Casablanca, auf der Churchill und Roosevelt das alliierte Kriegsziel fixierten: die „bedingungslose Kapitulation“ Deutschlands. Womit sie für den ihnen applaudierenden Exilanten in Pacific Palisades den Unterschied zwischen „Nazitum und dem deutschen Volk“ aufhoben.
Die Literaturkritik reagierte überwiegend ablehnend
Die absehbare Zerschlagung des NS-Regimes war für Thomas Mann dann gleichbedeutend mit dem Ende der geschichtlichen Existenz der Deutschen als politisches und kulturell selbstbestimmtes Volk. Zwar werde es nach der reichsdeutschen Apokalypse noch soziales Leben in Deutschland geben, aber keine nationale Geschichte im emphatischen Sinne mehr.
Die Literaturkritik im besetzten Rest-Deutschland nahm den „Doktor Faustus“ überwiegend ablehnend auf. Walter Boehlich, der spätere Cheflektor des Suhrkamp Verlages, ätzte 1948 unter Anspielung auf Goethes Kommentar zur Schlacht von Valmy, das Dritte Reich sei eine „Epoche der Weltgeschichte gewesen, und Thomas Mann kann sagen, er sei nicht dabeigewesen“. Hans Egon Holt-husen prangerte an, daß dem Roman die „Idee Gottes“ fehle und die Stimme der Wahrheit in der transzendenzlosen, einem unerträglichen Relativismus huldigenden Welt des Autors nicht zu hören sei.
Der ehemalige SS-Kulturfunktionär Hans Ernst Schneider, der sich selbst „entnazifiziert“ hatte und der unter dem Pseudonym Hans Schwerte in der Bonner Republik noch eine glänzende akademische Karriere machte, klagte wie Holthusen den „glaubenslosen“ Großschriftsteller an, eine „metaphysisch verbrämte Kriegsschuldthese“ aufgestellt zu haben. Ist der Roman also nichts anderes als eine 700seitige Langfassung jener 58 knappen Rundfunkreden an „Deutsche Hörer“, Thomas Manns Beiträgen zur alliierten Kriegspropanda, die von Oktober 1940 bis zum November 1945 von der BBC ausgestrahlt wurden?
Eher nicht, meint Peter Uwe Hohendahl, Jahrgang 1936, emeritierter Germanist an der Cornell University (New York). Falls sich nämlich der Roman lediglich als genaue Übersetzung des politischen Diskurses in plumpen, literarisch verpackten „Antifaschismus“ erwiese, „könnte man von einer Identität des Intellektuellen und des Künstlers Thomas Mann sprechen“ (Das Argument, 338/2022). Dafür liefere der Text zwar auf den ersten Blick eine Fülle von Indizien. Vor allem ist es die ahistorische Konstruktion einer über dreißig Generationen, 1.000 Jahre konstanten, keinem Wandel unterworfenen, angeblich typisch deutschen Mentalität, die auf einem historischen Sonderweg schnurgerade „von Luther zu Hitler“ habe führen müssen.
Das deutsche Selbstverständnis als „verspätete Nation“
Als Hauptquelle einer derart Ideengeschichte und Kulturanthropologie „essentialistisch“ verrührenden Geschichtsphilosophie verweist Hohendahl auf den Wälzer „Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas“ (1937) aus der Feder des 1933 emigrierten, mit Thomas Mann in den USA wieder verbundenen deutsch-jüdischen Privatgelehrten Erich von Kahler.
Wie in den fast zeitgleich erschienenen „Studien über Autorität und Familie“ (1936) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und Helmuth Plessners „Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“ (1935) steht von Kahlers Entwurf eines „überzeitlichen Charakterbildes“ in der von Herder und Hegel begründeten Denktradition, historische Prozesse mit dem Wirken von – im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur von deutschen Kulturtheoretikern auch als ethnisch-rassisch determiniert begriffenen – „Volksgeistern“ zu erklären.
Die deutsche „Seele“, den „deutschen Geist“ oder „das deutsche Wesen“ sieht von Kahlers Sozialpsychologie gekennzeichnet durch einen fundamentalen Irrationalismus, der die in Nacht und Tod verliebten Deutschen daran hinderte, sich in die demokratische Zivilisation des Westens einzufügen. Sie an westlichen Normen messend, qualifizierten von Kahler und Plessner die deutsche konsequent als „die verspätete Nation“, eine Zuschreibung, die seit das 1950ern das „antifaschistische“, ins „Antideutsche“ umgeschlagene Selbstverständnis der westdeutschen Intelligenz prägte.
Das deutsche Selbstverständnis als „verspätete Nation“
Auf Thomas Mann, den Kriegspropagandisten, durfte sich die Masse der umerzogenen, auf dem „Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) dahinziehenden Bundesrepublikaner guten Gewissens berufen. Auf Thomas Mann, den Verfasser des „Doktor Faustus“, jedoch allenfalls mit Vorbehalten.
Unterbreitet der Autor mit der Gestalt des Ich-Erzählers, des Leverkühn-Freundes und Biographen Serenus Zeitblom, doch ein Deutungsangebot, wonach der Roman jene deutsche kulturelle Identität verteidige, die sich den humanistischen Bildungsidealen Goethes und Wilhelm von Humboldts verdankte.
Aus einer solchen Lesart, die sich überdies mit vielen, von der Überlegenheit der deutschen Kultur kündenden Zitaten in Thomas Manns Tagebüchern stützen läßt, ergäben sich „unerwartete Konvergenzen mit der Restauration der deutschen Hochkultur“ in der frühen Bundesrepublik und mit dem „Klassik-Kult der 1950er und 1960er“, die es erlaubten, eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen und den NS-Staat als bedauerliche, aber episodenhafte Phase der deutschen Geschichte zu behandeln. Der Völkermord an den Juden konnte in diesem Rahmen als Faktum anerkannt, seine historische Bedeutung indes verdrängt werden.
Erst im „Historikerstreit“ von 1986 hätten die linksliberalen Gegner der um „Normalisierung der deutschen Geschichte“ (Habermas, Winkler, Kocka) bemühten konservativen Historiker um Ernst Nolte klargestellt, daß die „Einzigartigkeit des Holocaust“ Zeitbloms kollektive Identität stiftenden „Brückenschlag“ im Keim ersticke und der politische wie kulturelle Bruch mit der deutschen Nationalgeschichte endgültig sei. Auch diese Interpretation werde von der komplexen Romanstruktur gedeckt, weil es in der Schwebe bleibe, ob die zahlreichen parodistischen Elemente die humanistische Botschaft Zeitbloms nicht untergraben und letztlich wieder zurücknehmen.