In einem sind sich Ukrainer und Russen einig: Der Feind ist der Nazi. Am 8. und 9. Mai versuchen beide Seiten, die dazugehörigen Gedenkveranstaltungen in Berlin für sich zu vereinnahmen. 1.800 Polizisten sind nötig, um die Feiern nicht eskalieren zu lassen. Denn Russen und Ukrainer beschimpfen sich lautstark gegenseitig. Und so werden die Kundgebungen zur Farce.
„Hau ab!“, „Hau ab!“, „Melnik, hau ab!“ Diese Schmährufe gelten dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk als er am Sonntag um 11.50 Uhr auf der Straße des 17. Juni aus seiner schwarzen Mercedes-Limousine aussteigt und zwischen den beiden T-34-Panzern die Treppen zum sogenannten Ehrenmal für die Rote Armee im Berliner Tiergarten hochläuft. Ihn begleitet ein Pfeifkonzert.
Alle Fahnen werden von der Polizei verboten
Und während Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) hinter Polizeigittern die Niederlage der deutschen Wehrmacht feiert, begrüßt auf der Straße der ehemalige Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Republik, Egon Krenz, Genossen und Passanten. Die Sowjetfahne ist, genauso wie die russische und ukrainische Fahne, verboten. Eine Auflage der Polizei, Teil einer Allgemeinverfügung, die für 15 Gedenkorte in Berlin an den zwei Tagen gilt. Dazu gehört auch das Verbot von Uniformen, Orden, der Buchstaben V und Z sowie das Abspielen von Militärmusik.
Dafür rennen Kommunisten in schwarzen Pullis mit einem stilisierten Aufdruck von Hammer und Sichel durch die Gegend. Einfallsreicher sind da die Ukrainer, die Kleidung in ihren Nationalfarben, also in den Farben Gelb und Blau tragen. In einem Koffer haben einige junge Menschen eine 25 Meter lange Ukraine-Flagge mitgebracht. Die wird zwar ausgerollt, aber genauso schnell wieder eingerollt, Auflage der Polizei.
Dank an die Soldaten der Roten Armee
Währenddessen beharken sich auf dem Mittelstreifen Ukrainer und Russen verbal. „Meine Mutter sitzt seit Wochen in einem Keller, haut aus der Ukraine ab“, wütete eine Frau. „Was wollt ihr, ihr seid doch eh nur korrupt und hattet lang genug Zeit etwas aus dem Land zu machen“, hält eine andere dagegen. Zwischendurch rufen andere Demonstranten: „Nieder mit Nazipest!“, oder „Dank den Sowjetsoldaten, raus mit den Faschisten“.„Dank den Sowjetsoldaten, raus mit den Faschisten.“ Nach 90 Minuten ist das Gedenken vorbei.
Nächster Tag, selber Ort, andere Belegschaft. Diesmal gedenkt der russische Botschafter. Mit russischen Fahnen, die später eingeholt werden müssen. Eine füllige Dame steht auf dem Platz des Ehrenmals, unter einer roten Jacke trägt sie ein weißes T-Shirt mit dem Konterfei des Sowjet-Diktators Josef Stalin und darunter auf Russisch den Satz: „Zu meiner Zeit hätte es so einen Mist nicht gegeben.“
Unter den Klängen eines Akkordeons tanzen Russen im Kreis und schmettern „Katjuscha“. Das Liebeslied hat allerdings noch einen ganz anderen Sinn: Der Mehrfachraketenwerfer BM-13, in Deutschland als Stalinorgel bezeichnet, wurde von den Russen nach eben diesem Lied „Katjuscha“ genannt. Wörtlich: Ende der Tanzeinlage.
Passant schlägt Putin für Friedensnobelpreis vor
Für einen Fahrradfahrer ist Putin ein Held, der den Friedensnobelpreis verdient hätte. Die Bundesregierung sei eine Marionette, „wie eine Nutte auf der Straße“. Ein älterer Herr zeigt ein Foto seines Lieblingskanzlers, zu sehen ist Gerhard Schröder.
Eine ältere Frau zeigt eine Collage: Fotos ihrer Familie, Mutter, Vater, der Rest sind ihre Onkel – die Männer in Uniform der Roten Armee, der Vater war bei der Marine. Welches Schiff er gefahren ist? Sie zuckt die Schultern. „Chronik des Sieges“, hat sie die Zusammenstellung genannt. Sie lebt schon länger in Deutschland, spricht kaum Deutsch. Warum sie nicht in Rußland lebt? Sie sei Künstlerin, sagt sie lächelnd.
Ein Deutscher mit DDR-Sozialisation, 1943 in Ostpreußen geboren, ist voll des Lobes für die Russen. „Jedes Jahr komme ich hier her und lege Blumen ab“, sagt er. Er ist tief davon überzeugt, daß es sich um einen Tag der Befreiung für Deutschland handele. „Vergewaltigungen gibt es immer, und damit haben die Deutschen angefangen und nach dem Krieg gab es keine mehr“, sagt er. Und überhaupt: „Die Ukraine gibt es doch erst seit 1922. Vorher war sie griechisch, türkisch, russisch, habsburgisch.“
Ein paar hundert Meter weiter am Brandenburger Tor flanieren unterdessen Touristen durch die Berliner Innenstadt. Für sie ist die Aufregung sehr weit weg. Kaum jemand interessiert sich für das bizarre Schauspiel an der Siegessäule. So bleiben alle Demonstranten zumindest eines: unter sich.