Für die einen ist sie nicht nur eine kulinarische Bankrotterklärung, sondern sogar ein Feindbild im Kampf um vegane Nachhaltigkeit. Für die anderen stellt sie ein traditionelles Kulturgut dar, ein Stück Heimat für den Gaumen: die Currywurst. 2019 stolze 70 Jahre geworden, ist sie quasi eine Zwillingsschwester der Bundesrepublik. Trotz der anhaltenden Debatte um die Streichung des Gastro-Giganten aus einer VW-Kantine ist ein viel wichtigerer Streit immer noch nicht beigelegt: Wer hat’s erfunden? Berlin, Hamburg und das Ruhrgebiet beanspruchen die Kreation des beliebten Fastfood-Klassikers hartnäckig für sich.
Glaubt man der Berliner Geschichte, so kam die aus Königsberg stammende Herta Heuwer im September 1949 das erste Mal auf die Idee, eine Brühwurst mit einer pikanten Tomatensauce anzurichten. Ihren Imbißstand an der Kantstraße 101/Ecke Kaiser-Friedrich-Straße in Berlin-Charlottenburg versah die gelernte Schneiderin später mit der Werbeschrift „1. Currywurst-Braterei der Welt: Eine von uns erdachte Berliner Spezialität“. 1959 ließ Heuwer, die als Trümmerfrau und freiwillige Mitarbeiterin in der Berliner Küchenhilfe arbeitete, die Wort-Bild-Marke „Chillup“ für ihre „Spezial-Sosse“ eintragen.
Wer hat’s erfunden?
Woher jedoch dieser damals ungewöhnliche Gedanke, Wurst mit einer Tunke aus Tomatenmark, Curry und anderen – von jedem Anbieter streng gehüteten – Gewürzen zu übergießen? Eine Erklärung: der Einfluß der westalliierten Besatzungsmächte, die US-amerikanischen Ketchup und Relish-Pasten sowie Worcestersauce, Curry und Chili aus England beziehungsweise aus dem britischen Empire mitbrachten.
So zeichnet es auch die Kult-Bude „Zur Bratpfanne“ in Berlin-Steglitz nach, die als Ein-Mann-Bockwurstverkauf von Günter Mosgraber im November 1949 vor dem berühmten Kino Titania-Palast startete, in dem 1951 die erste Berlinale stattfand. Mosgrabers Ehefrau Annemarie arbeitete damals als Hausangestellte bei einer Offiziersfamilie aus den Vereinigten Staaten und kam so mit den neuen Zutaten und Eßgewohnheiten in Berührung. Auch Herta Heuwers Mann arbeitete zu der Zeit für die US-Amerikaner.
Verneigung vor den Frauen des Wiederaufbaus
Spricht alles für die Hauptstadt, möchte man meinen. Doch 1993 bringt der Hamburger Schriftsteller Uwe Timm Verwirrung in die Geschichtsschreibung. In seiner Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ schrieb er die Gastronomie-Revolution einer gewissen Lena Brücker zu, die bereits 1947 die Currywurst auf dem Großneumarkt in der Freien und Hansestadt erfunden habe.
Zwar eine fiktive Geschichte und Verneigung vor allen „wunderbaren Frauen“ des Wiederaufbaus, allerdings beharrt Timm darauf, 1947 an einem Imbißstand auf dem Großneumarkt persönlich einen solchen exotischen Gaumenschmaus gegessen zu haben. 2008 wird das Buch, das in erster Linie die letzten Kriegswochen und die Nachkriegsjahre zeichnet, verfilmt.
„Steak des kleinen Mannes“
In der Tat waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Eintopf- oder Wurststände die ersten gastronomischen Highlights in dem sich nur langsam von Zerstörung und Lebensmittelknappheit erholenden Land. Zudem boten sie insbesondere nach der Einführung der D-Mark 1948 den Bürgern die Möglichkeit, sich unternehmerisch zu betätigen und sich etwas zu gönnen.
Die Option „ohne Darm“ stammt dennoch aus diesen darben Jahren, da Naturdarm damals nur schwer zu haben war. Das Produktionsverfahren hat der aus dem Erzgebirge nach Berlin-Spandau gezogene Schlachter Max Brückner entwickelt. Zusammen mit Frank Friedrich vertrieb er die „Spandauer ohne Pelle“, die nach Darstellung ihres Unternehmens „Maximilian“ den zweiten Grundstein darstellt für den Erfolg von Herta Heuwers Traum vom „Steak des kleinen Mannes“.
Wo gibt es die beste Curry?
Heute ist die Currywurst, von der pro Jahr etwa 800 Millionen Exemplare in Deutschland verspeist werden (70 Millionen allein in Berlin), ein Gericht für jedermann und lockt selbst Spitzenköche weg von den Sternen zum Imbißgrill. Alt-Kanzler Gerhard Schröder war schon vor seiner Lobeshymne auf den „Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion“ bekennender Currywurst-Fan. Herbert Grönemeyer besang sie, als er noch nicht „woke“ Phrasen auf Konzerten herumschrie, und prägte damit den Ruhrpottmythos.
In vielen Städten dreht sich derweil der Zoff ohnehin um eine ganz andere Frage: Wo gibt’s die beste Curry? In Berlin fast schon eine Frage der Kiez-Ehre, die regelmäßig in Lokalblättern und an Kneipentischen ausgefochten wird: „Bei Krasselt’s!“, „Quatsch, Curry 36 in Kreuzberg, trotz Touristen!“, „Blödsinn, ihr Wessis, Konnopke’s an der Schönhauser!“ Tatsächlich gilt Max Konnopke als Begründer der Ost-Berliner Currywurst. Bereits 1930 mit einem um den Hals gehängten Kessel gestartet, verkauft der Traditionsimbiß seit 1960 seine Currywurst mit „Ketchup nach Familienrezept“.
Exportschlager des Wirtschaftswunders
Unabhängig davon, wo es „die Beste“ oder gemäß Chili-Wettkämpfen „die Schärfste“ gibt: viele Verkaufsbuden sind einmalige Orte, soziale Schmelztiegel zwischen Arm und Reich, liebgewonnene Institutionen für Anzug- wie für Blaumannträger. „Champagner und Currywurst?“ Zumindest bei „Biers Kudamm 195“ kein Problem. Hier und an anderen Ständen gern gesehener Gast: Entertainer Harald Juhnke, der sich mit dazugehörender „Molle“ (Bier) ablichten ließ und in Scetchen sein Berliner Original gegen fremde Dialekte verteidigte.
Heute ist die Currywurst, die es mittlerweile mit Trüffel oder Blattgold und als Kühlregalware gibt, auf der ganzen Welt erhältlich, von London bis New York – ein Exportschlager des deutschen Wirtschaftswunders, den es zu bewahren lohnt.
> Der Beitrag erschien leicht verändert erstmals in der Ausgabe Nr. 40/19 der JF.