55 Millionen Abtreibungen weltweit pro Jahr, über 100.000 in Deutschland nach der offiziellen Statistik, das heißt 400 pro Arbeitstag. Alarmierende Zahlen, die nicht gleichgültig lassen können. Und doch leben wir in einer Zeit, in der erneut Abtreibungen verharmlost werden, in der vehement ihre vollständige juristische und gesellschaftliche Entkriminalisierung gefordert wird. Diesem Anliegen wird bisweilen gerne dadurch ein anderer Ton gegeben, daß ein angebliches Tabu beschworen wird, das es um das Thema der Abtreibung nach wie vor gebe und aufgrund dessen Frauen Angst haben müßten, wegen einer Abtreibung stigmatisiert zu werden.
Zu wissen, daß man ein Kind nicht will, scheint der allein entscheidende Gesichtspunkt zu sein, der einen vielleicht sehnlichst erwarteten Zustand „guter Hoffnung“ von einem Schwangerschaftskonflikt unterscheiden soll. Aber geht es denn hier um ein Kleid, das man bestellt hat und nach kurzer Überlegung doch lieber zurücksendet? Eine extrem subjektive Sichtweise, die in der Überlegung zum Ausdruck kommt, daß eine Frau sich sicher sein kann, „daß ein Schwangerschaftsabbruch für sie der bessere Weg sein würde“.
Der andere Beteiligte des Geschehens, das ungeborene Kind, kommt überhaupt nicht vor. Verborgen auch hinter dem gegenüber der Tötung eines Kindes harmloseren Wort Schwangerschaftsabbruch. Entsprechend der eingenommenen Grundhaltung, das Geschehen zu verschleiern, ist dann konsequenterweise von „Operation“ oder „ärztlicher Dienstleistung“, nicht einmal von Abtreibung und erst recht nicht von vorgeburtlicher Kindstötung die Rede.
Ein einmal gefaßter Entschluß, und die Zweifel bleiben doch
Die Ambivalenz der Schwangeren wird dabei durchaus gesehen. Es geht für sie darum, ihren einmal gefaßten Entschluß aufrechtzuerhalten. In diesem Zusammenhang sind auch Bannmeilen vor Abtreibungspraxen oder Beratungsstellen von Pro Familia – wie unlängst von der Stadt Frankfurt beschlossen – zu sehen.
Die Frau entscheidet sich, niemandem von der Schwangerschaft und ihrem Plan, abzutreiben, zu erzählen, „damit ich ja nicht von meiner Entscheidung abkomme“. So als ob sie fürchten würde, daß das der Fall sei? Werden mit diesem Beharren auf der einmal getroffenen Entscheidung nicht eigene Zweifel verdrängt, die vielleicht auf der Ebene des Unbewußten liegen? Die Angst, von diesem Entschluß wieder abgebracht werden zu können, deutet jedenfalls darauf hin.
Daß die Entscheidung für oder gegen ein Kind für die Frauen, die eine Abtreibung in Erwägung ziehen, eine der schwersten Entscheidungen sein kann, bestreiten sogar Abtreibungsbefürworter nicht. Aber weshalb fragt man an dieser Stelle nicht weiter nach den Gründen, die die Entscheidung so schwer machen? Das Leben eines Kindes steht auf dem Spiel, und dessen ist sich wohl jede Frau im letzten Winkel ihres Herzens bewußt.
Die Unterstellung einer gesellschaftlichen Stigmatisierung
Eine ungewollte Schwangerschaft. Mitunter sind Schwangerschaften zuerst einmal ungewollt. Aber daraus ableiten zu wollen, daß Abtreibung eine Lösung sein könnte, ist so kurzsichtig wie blind. Gegenüber der Realität der Existenz eines Kindes, das leben will, aber auch der Beeinträchtigung des eigenen Lebens, die eine Abtreibung meist herbeiführt.
Da hilft es auch nicht, Abtreibung als eine Entscheidung darzustellen, die zugunsten von anderen wichtigen Optionen im Leben getroffen wird. Das mag so sein, diese Gleichstellung übersieht jedoch, daß hier Rechtsgüter von gänzlich ungleichem Gewicht einander gegenübergestellt werden. Das Verschweigen dieses Umstands suggeriert eine vermeintliche Legitimation.
Wie Staat und Gesellschaft mit dem Thema umgehen, wirke sich auf Empfinden und Verhalten der Frauen aus, so lautet der Einwand, der suggerieren will, es gehe hier allein um das Empfinden der betroffenen Frau angesichts einer gesellschaftlichen Stigmatisierung. Unterstellt wird hierbei auch, das subjektive Empfinden sei etwas Statisches, das sich nicht ändern könne. Dies trifft jedoch nicht zu. Eine Abtreibung kann das Ergebnis einer selbstbestimmt getroffenen Entscheidung sein – die man irgendwann zutiefst bereut.
Wodurch entstehen die Schuldgefühle?
Der Unrechtscharakter der Abtreibung kommt in der Gesetzeslage eindeutig zum Ausdruck – Abtreibung nach der Beratungsregelung ist rechtswidrig, wird lediglich nicht bestraft. Wer eine „Pro-Choice“-Position vertritt, den muß dies erheblich stören: „Das, was ich tue, muß etwas Unrechtmäßiges sein, das nicht in Ordnung ist.“ Selbstverständlich ist es nicht in Ordnung, und das ist genau der Grund dafür, warum das Bundesverfassungsgericht zu diesem Ergebnis kommt, daß eine Abtreibung nach der Beratungsregelung rechtswidrig sein muß.
Der nächste Einwand lautet: Die schwangeren Frauen würden das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Rechtslage meist gar nicht kennen, und trotzdem erlebten sie in der Situation der Abtreibung einen Rechtfertigungsdruck. Unzutreffende Thesen wie diejenige, die meisten Frauen seien nach einer Abtreibung erleichtert, sollen die eigene Position festigen. Studien zum Post-Abortion-Syndrom und Wortmeldungen von Psychotherapeuten, die mit der Thematik vertraut sind, sprechen eine andere Sprache.
Daß Schuldgefühle aufgrund des gesellschaftlichen Klimas aufkämen, ist also eine Illusion. Die Schuldgefühle werden nicht von der Haltung der Gesellschaft verursacht, die ohnehin eher die ultra-liberale Position der Entscheidungsfreiheit vertritt, sondern von dem, was sich objektiv ereignet hat. Es geht bei einer Abtreibung nicht darum, daß eine Frau die für sie richtige Entscheidung trifft. Abtreibung ist immer die falsche Entscheidung, selbst bei allergrößter Konfliktlage, weil über das Leben eines Kindes entschieden wird.
Das Dogma von der Entscheidungsfreiheit
Die ambivalente Haltung des Partners – er stehe hinter ihr, egal, welchen Weg sie gehe; die letztendliche Entscheidung werde ihr überlassen. Das ist vermeintliche Neutralität, bei der sich viele Frauen zu Recht im Stich gelassen fühlen. Sie brauchen in dieser Situation mehr als nur ein „Ich akzeptiere jede Entscheidung“, sie brauchen ein „Wir schaffen das“ ihres Partners.
Neben dem Verweis auf das nicht begründete und in Wirklichkeit auch nicht bestehende Recht der Frau, eine freie Entscheidung zu treffen (das Rechtsgut Leben steht über dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter), werden auch heute noch unsinnige Behauptungen wie das alte „Mein Bauch gehört mir“ aufrechterhalten – jedes Jahr auf dem „Marsch für das Leben“ in Form des Gegenprotestes konkret erfahrbar: der Vorwurf, sie müßten doch nicht jemanden um Erlaubnis bitten für das, was mit ihrem Körper geschehe. Hier geht es um das Leben des Kindes. Zellhaufen, lebendige Materie, einfach nur Leben – nein, Person vom ersten Augenblick seiner Existenz an. Es gibt keine potentielle Person.
Wichtig für Frauen, die von einer Abtreibung betroffen sind, sei der Austausch mit anderen. Die Bedeutung des Redens und Austauschens macht das Gewicht deutlich, das eine Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung für eine Frau immer hat, und soll darüber hinaus illustrieren, daß die Entscheidung niemals Ausdruck von Leichtfertigkeit ist. Um die Abtreibung aus der Tabuzone herauszuholen, sei dies alles jedoch nicht ausreichend, sondern hierfür bedürfe es nun endlich der gesellschaftlichen Anerkennung eines Rechts auf Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft.
Nur die Trauer über eine verpaßte Möglichkeit?
Nicht die Tabuisierung ist jedoch das eigentliche Problem, die ohnehin eine unbewiesene Behauptung ist. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Abtreibung, die infolge der Straffreistellung eingetreten ist, spricht vielmehr eindeutig gegen eine solche Annahme. Das Unrechtsbewußtsein ist bei keinem anderen Straftatbestand in solch erheblichem Maße geschwächt oder abhandengekommen wie bei der Abtreibung.
Abtreibung nach Beratung gilt als erlaubt, als legal, als rechtmäßig. Nicht also die Tabuisierung ist das eigentliche Problem. Offensichtlich bleibt aber ein Bereich, in dem das Handeln weiterhin als rechtfertigungsbedürftig empfunden wird. Ist diese vermeintliche Tabuisierung nicht in Wirklichkeit der Rest eines Unrechtsbewußtseins, das sich zwar verdrängen, letztlich aber nicht überlisten läßt?
Die Trauer über eine verpaßte Möglichkeit: Eine Freundin hat neulich eine Reise nach New York abgesagt, eine wunderbare Gelegenheit, ihren Sohn dort zu besuchen, wegen noch nicht ganz überwundener Flugangst. Erleichterung auf der einen Seite – und Bedauern, Traurigkeit über diese verpaßte Chance auf der anderen. Ist dies vergleichbar? Reduziert man die Trauer nach Abtreibung auf ein solches Erlebnis, so unterliegt man einer Selbsttäuschung. Denn die eigentliche Dimension wird dann nicht erkannt. Das aber vereitelt auch die Chance, das Geschehen richtig zu verarbeiten.
Für die ungeborenen Kinder Fürsprecher sein
Abtreibung ist nicht nur die verpaßte Möglichkeit der Geburt eines Kindes. Sie ist, bei allem Verständnis für eine noch so ernste Konfliktlage, immer auch Schuld, weil es nicht allein um die Frau und ihre Pläne geht. Wäre nicht die Forderung danach, dies nicht länger zu tabuisieren, ein entscheidender Schritt hin zu einer humaneren Sichtweise? Ungeborene Kinder haben keine Stimme. Um so mehr brauchen sie unsere Wahrnehmung, unsere Fürsprache, unser Mitgefühl.
Frauen im Konflikt einer ungewollten Schwangerschaft bedürfen der gesellschaftlichen Solidarität, die sich in tatkräftiger finanzieller und rechtlicher Hilfe und, vielleicht noch wichtiger, in Anerkennung, Mitfreude und Verständnis zeigen kann. Man ist mehr als verletzlich in dieser Phase. Aber Abtreibung liegt nicht im Interesse der Frauen und nicht im Interesse der Kinder. Sie löst keinen Konflikt und macht keine Schwangerschaft rückgängig. Sie ist ein trauriges Symbol eines nur vermeintlichen Fortschritts.
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Dr. Friederike Hoffmann-Klein arbeitet als Juristin mit Schwerpunkt Europa- und Kirchenrecht in Freiburg, darüber hinaus als Journalistin und Übersetzerin. Sie ist stellvertretende Landesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL) Baden-Württemberg und Mitglied in deren Bundesvorstand.