Die Beerdigung Christa Wolfs am 13. Dezember 2011 fand unter einem jahreszeittypisch grauen Berliner Himmel statt. In der Trauerhalle des Dorotheenstädtischen Friedhofs rezitierte die hörbar um Fassung ringende Corinna Harfouch das Sonett „Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren“ von Paul Fleming. Schriftstellerkollege Volker Braun hob in seiner Ansprache Wolfs existentielle Einheit aus Leben, Schreiben und sorgendem Engagement hervor: „Jetzt, da ihr Leib in die Erde kommt, und alles fällt von ihm ab, was ihn anstrengte – denn er trug ihr Schreiben mit, reflektierte es, und sei es, daß die Gelenke blockierten“.
Unterdessen stürzten draußen die Temperaturen gegen den Nullpunkt, und als der Sarg zum Schubert-Lied „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ herausgetragen wurde, fiel kalter Nieselregen, in den sich Eisnadeln mischten. Keine offiziellen Vertreter waren zugegen, zu Recht: Die politischen Kiezgrößen von Bund und Land wären fehl am Platze gewesen.
Christa Wolfs Einzug in die Fremde begann am bitterkalten 29. Januar 1945, als ihre Familie unter Heulen und Zähneklappern das heimatliche Landsberg in Ostbrandenburg auf einem Pferdefuhrwerk verließ. Beim Blick durch einen Schlitz in der Plane durchzuckte die knapp 16jährige die Gewißheit: „Das siehst du niemals wieder.“
Selbstentfremdung an eine Ideologie
Die Familie wollte weiter westwärts über die Elbe, doch kurz vor dem Ziel verweigerten die zu Tode erschöpften Pferde den Gehorsam. So blieb die Familie dort, was die Sowjetzone und später die DDR werden sollte. In einem ihrer letzten Bücher warf die zwischenzeitlich als „Staatsdichterin“ Gescholtene die Frage auf, ob sie heute denn schuldlos wäre, hätten damals die Pferde mehr Kraft gehabt.
Die Lebensläufe und ihr Bewertungsrahmen waren – und sind teilweise bis heute – durch die deutsch-deutsche Frontstellung determiniert, der schicksalhaften Folge des Zweiten Weltkriegs. Sie bildet auch den Hintergrund des Romans „Der geteilte Himmel“, der von einem jungen Paar handelt, das durch den Mauerbau endgültig getrennt wird.
Manfred, ein Akademiker, ist aus Erbitterung über die Parteibürokratie nach West-Berlin gegangen, wo er bei seiner Tante, der Schwester seiner verstorbenen Mutter, wohnt. Vergeblich versucht Rita ihn zur Rückkehr zu bewegen. Nach dem Mauerbau unternimmt sie einen Selbstmordversuch. Sie gesundet in dem Maße, wie sie erkennt, daß ihre Entscheidung für die DDR trotz der persönlichen Härten richtig war.
Diese ins Innere verlegte, scheinbare Konfliktlösung – faktisch die Internalisierung beziehungsweise die Selbstentfremdung an eine Ideologie – sollte 1990 zu einem zentralen Kritikpunkt im deutsch-deutschen Literaturstreit werden.
Aus Schirrmacher sprach eine Siegermentalität
Das 1963 erschienene Buch stellte viel mehr in Frage, als DDR-Schriftsteller bis dahin gewagt hatten, aber eben nicht den Glauben an den Sozialismus. Das macht seine Beschränktheit aus und reduziert es im Vergleich zu Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ auf ein primär literaturhistorisches Ereignis. Als solches aber ist es lehrreich: Christa Wolfs Sozialismus hat mit Stalin nichts und mit Ulbricht wenig, dafür viel mit protestantischer Askese, mit deutschem Idealismus, mit der Sehnsucht nach innerweltlicher Transzendenz und dem Bedürfnis zu tun, Wurzeln zu schlagen in der Fremde.
Frank Schirrmacher, damals Literaturchef der FAZ, schrieb 1990 in einem folgenreichen Aufsatz, Wolfs Einstellung sei von Schuldgefühlen gegenüber den in der NS-Zeit verfolgten Antifaschisten geprägt gewesen, die später in der DDR das Sagen hatten. Aus Schirrmachers Attacke sprach leider auch eine Siegermentalität, die gänzlich ungerechtfertigt war, denn dieser generations- und sozialisationsbedingte Komplex, den er so scharfsinnig herausgearbeitet hatte, sollte sich in der größer gewordenen Bundesrepublik binnen weniger Jahre zu einer hirnvernebelnden Metaphysik und Staatsideologie auswachsen.
Im Rückblick besitzt eine kleine Szene aus dem Roman visionäre Kraft. Als Rita im Sommer 1961 ihren republikflüchtigen Freund besucht, führt er sie in das Zimmer der Tante, das er die „Vorhölle“ nennt. Die Frau sitzt am Fenster, „von einer unheimlich lautlosen Sonne angeschienen“, und strickt an einem schwarzen Schal für den Winter. „Sie hatte nichts weiter, als die Trauer um die verstorbene Schwester, die mußte für lange Zeit reichen.“
Die Szene könnte von Ingmar Bergman stammen, der seine Figuren, um ihre Trostlosigkeit und Gottverlassenheit zu offenbaren, einem harten, grellen Sonnenlicht aussetzte. Wolf ging es um die Entfremdung im Kapitalismus, doch erscheint die Frau am Fenster heute auch wie ein Gleichnis auf die Bundesrepublik, die ihre Existenz in manischer Trauerarbeit verhaucht.
Der Riß war nicht mehr zu kitten
Zu Christa Wolfs bleibenden Texten gehört die Erzählung „Kein Ort. Nirgends“, erschienen 1979. Sie schildert ein fiktives, möglicherweise 1804 stattgefundenes Treffen der Dichterin Karoline von Günderrode, einer engen Freundin Bettina von Arnims, und Heinrich von Kleists. Beide waren Außenseiter, beide endeten durch Selbstmord nahe am Wasser, die eine mit 26 Jahren in Winkel am Rhein 1806, der andere 34jährig 1811 am Berliner Wannsee.
Sie sind Gäste eines ästhetischen Tees, an dem unter anderem Bettina und deren Bruder, der Romantiker Clemens Brentano, und der Jurist Carl von Savigny teilnehmen. Die Zeit ist aus den Fugen: Napoleon hat sich zum Kaiser gekrönt, das alte Deutsche Reich ist am Ende. Karoline leidet an den Rezensenten, denen ihre Dichtung nicht weiblich genug ist, und an einer unglücklichen Liebe. Kleist leidet ohnehin: an Preußen und seinem Militär, an das er seine Jugend verschenkt hat; an der Ignoranz des Publikums, das mit seinem „Schroffenstein“-Drama nichts anfangen kann, weil es voller Gewalt und Zweifel ist und auf die fällige Katharsis verzichtet.
Christa Wolf verarbeitete ihre Erfahrungen im Zuge der Biermann-Ausbürgerung 1976, gegen die sie öffentlich protestiert hatte. Wochenlang war sie von Stasi-Schnüfflern gestalkt worden und hatte tribunalartige Prozeduren über sich ergehen lassen müssen. Der Riß war nicht mehr zu kitten und der Konflikt mit der Staatsmacht zur offenkundigen Tatsache geworden. Darin lag zugleich die Chance, ideologische Dogmen endgültig abzustreifen. Die Erzählung ist somit auch eine Parabel über Dissidenz und Erkenntnisgewinn durch die Ablösung vom Zeitgeist.
Kleist: „Und da sitzen wir immer noch und handeln mit den Parolen des vergangenen Jahrhunderts, spitzfindig und gegen unsere stärkere Müdigkeit ankämpfend, und wissen: Das ist es nicht, wofür wir leben und worum wir sterben könnten. Unser Blut wird vergossen werden, und man wird uns nicht mitteilen, wofür.“
Die Übermacht der anderen nicht akzeptieren
Was vor vierzig Jahren ein Kommentar zur DDR-Wirklichkeit war, liest sich heute als Verriß von Merkels „Wir schaffen das!“ Oder als Fußnote zum Sterben deutscher Soldaten in Afghanistan. Aufgekündigte Freundschaften, Illoyalität und Gemeinheit sind einzukalkulieren: „Wer so hoch spielt, mit sich selbst als Einsatz, soll auf Gefährten nicht rechnen.“
Ein anderes Risiko liegt in der Selbstgerechtigkeit, in die der Stigmatisierte sich flüchtet. Savigny will Karriere im Staatsdienst machen, die ihn bis ins Amt des Justizministers führen wird. „Kleist verbietet sich das Vorurteil gegen einen Mann, der einem Amt zustrebt.“
Es gilt also, das Gleichgewicht zu halten. Was wiederum heißt, die numerische Übermacht der anderen nicht als Argument zu akzeptieren. „Soll der Staat seine Ansprüche an mich stellen, soll er mich verwerfen. Wenn er mich nur überzeugen könnte, daß er dem Bauern, dem Kaufmann gerecht wird; daß er uns nicht alle zwingt, unseren höheren Zwecke seinem Interesse zu unterwerfen. Die Menge, heißt es. Soll ich meine Zwecke und Ansichten zu den ihren machen? Und vor allem: Was ihr wirklich zuträglich wäre, ist noch die Frage. Nur stellt sie niemand. Nicht in Preußen.“
Die Günderrode und Kleist führt ihre Ohnmacht jedoch in die Verzweiflung: „Wenn nicht Überspanntheit, sondern ein scharfes, gut: überscharfes Gespür für die wirklichen Verhältnisse ihm den Ausruf abpreßte: ‘Wohin beweg ich meinen Schritt, dem Ekel zu entgehn, der vor mir liegt.’“ Kein Ort! Nirgends! Der gemeinsame Nenner der beiden lautet folgerichtig: „Welch ein Trost, daß man nicht leben muß.“
Einen lebensfreundlicheren Ausblick eröffnete Christa Wolf in der parallel begonnenen Erzählung „Sommerstück“, die erst Jahre später beendet und 1989 veröffentlicht wurde. In einem mecklenburgischen Dorf verbringen Künstlerfreunde in ihren Ferienhäusern gemeinsam einen Jahrhundertsommer. Sie sind nicht außerhalb der Welt, aber sie erscheint ihnen weniger wichtig. Wichtiger sind ihnen die Natur, die Kunst, das Gespräch unter Freunden. „Die obskuren Inseln der kultivierten Gemeinschaft“, gifteten Kritiker nach der Wiedervereinigung. Die souveräne Antwort hatte Christa Wolf im „Sommerstück“ vorweggenommen: „Was bleibt zu hoffen für eine Zeit, die vom Hohn auf Schönheit gezeichnet ist?“
Volker Braun beschloß seine Totenrede: „Was sah sie zuletzt, welches Licht? Winter wird es.“ Am 18. März wäre Christa Wolf 90 Jahre alt geworden.
JF 12/19