Das einzige, was in der deutschen Politik derzeit wirklich feststeht, ist, daß Angela Merkel am diesjährigen Tag der Deutschen Einheit seit 4.698 Tagen Bundeskanzlerin ist. Inwieweit ihre künftigen Tage im Amte gezählt sind, darüber wird landauf, landab spekuliert, kommentiert und diskutiert – und das nicht nur in den Medien. Zu laut der Schuß vor den Bug, als ihr der altgetreue parlamentarische Security-Mann unversehens abhanden kam.
Man muß nicht einmal vertieft in Aufstieg und Niedergang von Kanzlermacht und -autorität in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte einsteigen, um zu ermessen, welche Erschütterung des politischen Machtgefüges damit einhergeht. Jetzt im deutschen Herbst 2018 besteht dazu ein Momentum besonderer Art. Man steht inmitten Merkels vierter Kanzlerschaft, ihrer dritten in jenem Koalitionsbündnis, dessen Groko-Branding demoskopisch drastisch abgeschmolzen ist. Ist damit das schnelle Ende von Merkels Kanzlerschaft programmiert?
Muß keineswegs so sein. Denn gerade die beiderseitige Schwächekonstellation der Regierungsparteien könnte bewirken, daß die Misere zusammenschmiedet, soweit die Füße tragen. So dürfte die schwache SPD zu einer Art Rollator dafür werden, daß Kanzlerin Merkel den unabkömmlichen Abschied von der Macht nach ihrem Timing gestalten kann. Denn die SPD kann es sich in ihrer jetzigen Verfassung noch weniger als die Union leisten, aus der Koalition auszuscheren, was ja Neuwahlen bei horrender Ebbe im Wählerpotential und in der Parteikasse zur Folge hätte.
Merkel will durchhalten
Das ist der Grund für Merkels Nervenstärke, weder ein parlamentarisches Vertrauensvotum wie weiland Gerhard Schröder einzuholen, noch den Parteivorsitz einem anderen oder einer anderen beim nächsten Parteitag zu überlassen. Merkel will durchhalten, und sie wird durchhalten, weil sie glaubt, die Oberhand bei ihrer Nachfolgeregelung bewahren oder wiedergewinnen zu können.
Die Verfallsfrist dafür freilich ist begrenzt. Geradezu motorisch dürfte die föderale Ablaufdynamik der in Serie bevorstehenden Landtagswahlen in den nächsten zwölf Monaten wirken, die kommenden Europawahlen sogar einmal außen vor gelassen.
Bei der Landtagswahl in Bayern, demnächst am 14. Oktober, schimmert weithin das Machtwechsel-Wunschdenken durch, hier möge die CSU so Federn lassen, daß der Rückschlag die Merkel-Regierung erbeben ließe und die CDU mit ihr. Realistischer erscheint aber, daß die CSU auf jeden Fall die Mehrheit deutlich gewinnen und deshalb den Ministerpräsidenten stellen wird, der sich sodann erforderliche Koalitionspartner mit Ausnahme der AfD und der Linken auswählen kann.
Der Parteienwettlauf um die Gunst der Stunde und die der bayerischen Mehrheitspartei ist schon vehement im Gange. Die saloppen Grünen und die bodenständigen Freien Wähler schmeißen sich beide heran wie Anschlußsuchende im Dating-Portal. Dazu hält sich ja die SPD gern an die Linie, niemals nie zu sagen. Die Aussichten stehen also nicht schlecht, daß es in München relativ schnell zu einer gutbürgerlichen Koalition mit erweiterter gesellschaftlicher Akzeptanz kommt, die bundesweit vormacht, wie Stabilität auch unter verändernten Vorzeichen geht. Die AfD als Oppositionspartei neu im landesweiten Sichtfeld des Freistaates wird sich da schwer ins Spiel von Bedeutung, Beachtung und Wirkung bringen können.
Hessen steuert auf Dreier-Koalition zu
Ambivalenter die Perspektiven der hessischen Landtagswahl nur zwei Wochen später. Für die schwarz-grüne Regierungskoalition der vergangenen fünf Jahre ist die Luft dünner geworden. So wird man wohl einen zusätzlichen Partner für eine Regierungsehe zu dritt brauchen. Nach Lage der Dinge kann und wird das die FDP sein. So eine Konstellation hat man schon im benachbarten Mainz und schreckt nicht sonderlich ab. Als Option steht auch hier die SPD zur Stelle, allesamt gedrängt von dem Impetus, die AfD zu isolieren. Also auch hier dürften Rückwirkungen auf Berlin, selbst wenn die CDU Prozente und den Ministerpräsidenten verlieren sollte, von Merkel so wegmoderiert werden können, daß sie als Kanzlerin überdauert.
Solches „Downsizing“ ist bei den Landtagswahlen (Sachsen, Thüringen, Brandenburg) im Herbst 2019 allerdings schwer vorstellbar. Die AfD wird mit den Volksparteien CDU und SPD so gleichauf sein, daß systemische Wirkungen auf die bundesdeutsche Machttektonik insgesamt ausgehen. Dabei wird die straßenlärmige „Merkel muß weg“-Kampagne weniger den Wechsel bewirken als die eiskalte Konsequenz ihrer eigenen Partei, von der „ewigen“ Kanzlerin ja rechtzeitig vor dem Bundestagswahljahr 2021 abzurücken. So sei die Prognose gewagt: Zur Jahreswende 2019/20 wird es sein, daß definitive Klarheit über das Ende der Ära der Kanzlerin Angela Merkel eintritt und darüber, wer aus der CDU ihr im Amte nachfolgen kann und soll.
Einzuräumen ist allerdings: Ende und Wende sind auch früher drin. Exogene Faktoren einer disruptiven Welt ringsum können partei- und innenpolitische Choreographien schlagartig zur Makulatur werden lassen; so wie weiland ein ferner Tsunami die verabschiedeten Zeithorizonte einer politischen Megawende umwarf.
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Heinz Klaus Mertes: Der Wirtschafts- und Politikjournalist („Spiegel“, „Manager-Magazin“, „Welt“) war ab 1990 Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens, wo er unter anderem „Report München“ und ARD-Brennpunkte moderierte. 1993 wechselte er als Programmdirektor zu Sat.1. Seit 1998 ist er Geschäftsführer seines Medienunternehmens M Com TV.
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