Der 18. September ist ein Schlüsseldatum für ganz Europa. Nicht nur für die Schotten, die in einer Volksabstimmung über eine einfach klingende, aber äußerst folgenschwere Frage zu entscheiden haben: „Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?
Daß das Referendum über die Unabhängigkeit des Nordteils der britischen Insel im Rahmen einer vertraglichen Regelung zwischen der Zentralgewalt in London und der Regionalregierung der Scottish National Party (SNP) in Edinburgh (Dùn Èideann) überhaupt zustande kam, war bereits ein außergewöhnlicher Erfolg der von Alex Salmond geführten „Yes“-Bewegung. Gleiches gilt für die Fragestellung, die den Souveränitätsbefürwortern erhebliche psychologische Vorteile verschafft.
Meinungsumfragen sehen erstmals eine knappe Mehrheit
Doch obwohl die erstaunliche Erfolgsgeschichte der schottischen Nationalbewegung in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten – Durchsetzung eines eigenen Parlaments 1999, erster SNP-Wahlsieg 2007, Gewinn der absoluten Mehrheit der Mandate 2011 – längst auch die internationalen Medien hätte aufhorchen lassen müssen, offenbarten diese bis vor kurzem ein erschreckendes Maß an Unwissen und Desinteresse. Damit scheint Schluß zu sein, seitdem die jüngste Meinungsumfrage erstmals eine knappe Mehrheit von 51 zu 49 Prozent für die Befürworter einer eigenen Staatlichkeit auswies.
Die Anhänger nationalstaatlicher Souveränität, die sich der jahrhundertelangen historisch-kulturellen Eigenentwicklung Schottlands verpflichtet fühlen, befinden sich stimmungsmäßig klar auf der Überholspur. Schon seit Jahren ist die SNP der mit Abstand dynamischste politische Faktor des Landes. Gesellschaftspolitisch links stehend, vereinigt die von ihr geführte, aus Dutzenden höchst unterschiedlichen Organisationen bestehende Unabhängigkeitsbewegung weite Teile der regional verankerten Wirtschaft und fast die gesamte schottische Kulturszene.
Visionen zur Zukunft des Landes fehlen den Unionisten
Mitglieder der Grünen und der Gewerkschaften sammeln sich ebenso hinter Salmond wie Teile der von der Labour Party entfremdeten Arbeiterschaft; auch zahlreiche Bauern und Fischer sowie ein einst den Torys nahestehendes konservatives Bürgertum sind Teil der Unabhängigkeitsbewegung. Letzterem stellt der Polit-Fuchs Salmond entgegen früheren Aussagen mittlerweile ein souveränes Schottland samt Königin, Pfund Sterling und Nato-Mitgliedschaft in Aussicht.
Im Referendumswahlkampf setzte die „Yes“-Kampagne die Akzente, demgegenüber agierten die Anhänger der „Better-Together“-Kampagne fast ausschließlich defensiv und ohne Elan. Griffige Visionen zur Zukunft des Landes fehlten. Statt dessen wurde das laue Motto ausgegeben, der Bürger möge sich doch lieber für das ungeliebte Bekannte als für das Risiko eines Neuanfangs voller Fragezeichen entscheiden.
Die entsprechenden Stichworte hießen Währungsunsicherheit, mögliche Neubeantragung der EU-Mitgliedschaft und mangelnde Seriosität der in der Tat gewagten wohlfahrtsstaatlichen Versprechungen der SNP, die auf unberechenbaren und zu hoch angesetzten Einnahmen aus dem Nordseeöl beruhten.
Weitere Dezentralisierung Großbritanniens ist nicht aufzuhalten
Offene Bekenntnisse zum britischen Einheitsgedanken, den gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen und Prägungen vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts gibt es so gut wie keine mehr. Die britische Identität ist – das läßt sich auch in Wales und selbst in England feststellen – längst erodiert. Der Nationalbewegung in Schottland gehört die Zukunft. Sie ist modern, selbstbewußt und von ihrer Struktur und Programmatik her derart vielfältig, daß ihr die althergebrachten politischen Rechts-Links-Schemata in keiner Weise gerecht werden.
Selbst wenn sich am 18. September eine knappe Mehrheit für den Status quo entscheiden sollte, würde das die weitere Dezentralisierung Großbritanniens nicht verhindern, zumal aus der Downing Street zuletzt bereits eine Reihe von Versprechungen gemacht wurden, wie die Autonomierechte des Nordens beispielsweise in puncto Steuer-Souveränität weiter ausgebaut werden könnten.
Wohin soll der Weg unseres Kontinents führen?
Allenfalls kann mit einem „No“ der Dominoeffekt verhindert bzw. aufgeschoben werden, den ein „Yes“ zweifellos auslöst. Die internationalen Folgen eines Unabhängigkeitsvotums in Schottland wären gewaltig – etwa in Oberitalien (in der Lombardei findet am 18. September ebenfalls ein Unabhängigkeitsreferendum statt), in Belgien und im besonders fragilen spanischen Zentralstaat, wo die Katalanen eine Volksabstimmung am 9. November vorbereiten und auch die Basken längst in den Startlöchern stehen. Auch in die irische Frage, die Autonomiebestrebungen madjarischer Volksgruppen oder in die Südtirol-Problematik würde sofort jede Menge Bewegung gebracht werden.
Das schottische Referendum erscheint vor diesem Hintergrund als Menetekel. Wohin soll der Weg unseres Kontinents führen? Weiter in Richtung Integration und Vereinheitlichung, also hin zu größeren, mehr oder weniger anonymen Entscheidungsräumen? Oder setzt sich ein dezentraleres, bürgernahes, demokratischeres Politikverständnis durch, das den unterschiedlichen ethnokulturellen Prägungen Europas Rechnung trägt und Machtzentralisierungen nur dort als Fortschritt betrachtet, wo sie unumgänglich erscheinen und allgemeinen Nutzen versprechen?
Fällt der schottische Dominostein, dann wäre das nicht zuletzt als ein Mißtrauensvotum gegen die real existierende Brüsseler EU- und Euro-Konstruktion zu verstehen und als Signal für einen selbstbewußten Neubeginn in einem Europa der Vielfalt.
JF 38/14