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Pflegeeinrichtung Gymnasium

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Weihnachts-Abo, Weihnachtsbaum, Zeitungen

Habe ich Ruhe, vor allem im ungeliebten Auto, höre ich permanent Deutschlandfunk. Das ist, als säße neben mir ein freundlicher Beifahrer, der nicht müde wird, aus der Zeit oder der FAZ vorzulesen. Nur bei Beiträgen über Bildung gebiete ich meist Schweigen und stelle auf den Klassiksender um, auf einen philharmonischen Klangkörper, der dann hinter mir Platz nimmt.

Diesmal aber hörte ich fatalerweise doch zu. In der Sendereihe „Lebenswelt“ ging es um die richtige Schulwahl. Zunächst fällt auf: Alle Experten, sämtlich Frauen, also „ExpertInnen“, reden im harmonischen Gleichklang und unterstreichen sich ihre Argumente gegenseitig. Niemand opponiert, im Gegenteil, man ist sich in allen Thesen ganz selbstverständlich einig. Inge Michels – nie Lehrerin gewesen! – vertritt als Autorin des Buches „Was Eltern bewegt: Die richtige Schule“ offenbar die nach GEW-Vorstellungen einnivellierten und erwartungsfrohen Eltern, die Professorin Stefanie van Ophuysen – schulpraktisch selbst ohne Erfahrungen – liefert akademische Autoritätsbeweise, indem sie all die Studien und Untersuchungen aufruft, und Angelika Knies, Leiterin der mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Anne-Frank-Schule in Bargteheide, geriert sich, ganz Star-Pädagogin der Medien, als zurückgelehnte Praktikerin, der aus reichem Erfahrungsschatz ohnehin längst alles klar ist und die sich ihre hohen Meriten nun wirklich sehr zu Recht verdient hat.

Der große Konsens der Frauengruppe besteht im Folgenden: Daß die Schule über Jahrhunderte eine Anstalt der Frustration, Kränkung und flächendeckenden Neurotisierung der Heranwachsenden war, hat sich glücklicherweise geändert, vorzugsweise dadurch, daß endlich, endlich das Kind selbst zum Maß aller Dinge wurde. Was nur richtig sein kann, denn das Kind ist per se schon aller Möglichkeiten voll. Prompt zitiert die Moderatorin Daniela Wiesler, eine Stimme voller Herz und Lachen, Maria Montessori: „Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“

Beifall der Damen: Quod erat demonstrandum!

Mit diesen Sprüchen ist es wie mit all den disparaten Studien: Man nickt das gern ab. Wohl wahr. Klingt jedenfalls schön. So wie sich der Mensch immer Konstruktionen baut, die zunächst im Sinne des Konstruktivismus viabel sind, die also zu passen scheinen.

Vor allem paßt den versammelten Damen, daß das dreigliedrige Schulsystem einen Anachronismus des bösen, bösen vorigen Jahrhunderts darstellt. Dies nachzuweisen, dafür reicht ein Wort: Selektion. Ganz im Gegensatz dazu wäre heutzutage ja klar, daß glücklicherweise jedem alles zuzutrauen ist, also selbstverständlich das Gymnasium und die Hochschulreife. Nicht nur dem mit der schlimmen Hauptschulempfehlung bereits früh traumatisierten und gebrochenen Kind, sondern im Sinne der flächendeckend betriebenen Inklusion überhaupt wirklich jedem. Deutet nicht gerade eine Lernbehinderung auf verborgene Talente, mindestens aber auf hohe menschliche Kompetenz hin? Dem mag so sein, hier und da, freilich nicht immer.

Ein glücklicher Vater ruft an. Stockend berichtet er, sein Sohn war insofern betroffen, als daß der als Legastheniker nicht aufs Gymnasium durfte, sich dann aber über die Realschule so entwickelte, daß er im durchlässigen System doch zum Abitur kam, es selbstverständlich mit Bravour und Auszeichnung absolvierte und mittlerweile als Medizinstudent erfolgreich im Physikum steht. Beifall von den Damen: Quod erat demonstrandum!

Schule nach politischen Wunschvorstellungen

Mit Legasthenie, denke ich manchmal, verhält es sich so ähnlich wie mit Laktoseintoleranz. Neuerdings scheinen das immer mehr Menschen zu haben. Es klingt wichtig und richtig gut. Und so wie die einen ihr Laktoseproblem gleich noch glutenfrei und ballaststoffreich zur bewußt gesunden Ernährung bringt, kommen die anderen mit Legasthenie barrierefrei zur Hochschulreife. Denn das ist alles andere als nur eine schlechte Rechtschreibung! Es ist ein endogener Defekt, für den niemand kann und der gerade ähnlich häufig wie ADHS diagnostiziert wird. Hauptsache, man hat einen Begriff von der Schwäche, dann hat sie sich nämlich schon erledigt.

Aber im Ernst: Leider hat die Schule tatsächlich noch jeden gekränkt – weltliterarisch erwiesen, nicht nur in Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Die meisten dieser Traumata gingen allerdings nicht vom Systemischen aus, sondern – wie immer – von den andern, also von den Lehrern und von den Mitschülern. Daran wird sich nichts ändern, trotz aller modernen „Moderation“.

Das Problem liegt vielmehr darin, daß sich die Schule – damals wie heute – nach politischen Wunschvorstellungen zu richten hat. Ging es einst u. a. um Leistung und Haltung, so geht es jetzt eben um Dienstleistung und die Gefälligkeit, jeden dort abzuholen, wo er steht. Das muß er nicht mal wollen. Denn in der Voraussetzung selbständigen Wollens läge ja schon die erste verletzende Überforderung, Diskriminierung, Ungleichbehandlung. Nein, nein, die Schule weckt, möglichst ganztags, sanft all die schlummernden Talente und muß vor allem eines garantieren: Erfolge, Erfolge, Erfolge. Am besten ohne Noten! Und wenn dann doch benotet wird, bitte in der Weise, daß niemand geknickt ist. Also: Anforderungen reduzieren, gerade im Inhaltlichen. Lieber mit neuen Methoden arbeiten und „Kompetenzen“ vermitteln, statt etwa Wissen. Jemandem Wissen beizubringen, vielleicht gar noch frontal, das gilt als nötigende Eintrichterung, als Übergriff, ja Mißbrauch! Als Kind möchte man sich entfalten und nicht von Forderungen korsettiert werden!

EOS: Grundton L wie Leistung

So der Grundton. Selbstverständlich ist nicht die Rede davon, daß 25 Prozent der Abiturienten mit ihren tollen Schnitten das Studium abbrechen. Vermutlich versteht es die Universität immer noch nicht so wie die Schule, Erstsemester dort abzuholen, wo sie stehen. Kein Gedanke daran, mal zu problematisieren, daß der Lehrer mittlerweile nicht nur mit den Medien, sondern mit Dutzenden reizüberflutenden Apps zu konkurrieren hat, daß er Entertainer seiner Thematiken sein muß, um überhaupt noch Leidenschaften wecken zu können, daß er als „Coach“ reduziert wird auf einen Zirkus fragwürdiger Verfahren und „Präsentationstechniken“, anstatt junge Leute zu inspirieren und intellektuell wie kulturell zu entzünden.

Ich verdanke glücklicherweise einer stark ideologisch, also nach Ideen ausgerichteten Schule alles, was ich noch habe: vor allem, daß ich lesen und schreiben kann, worin offenbar bereits eine – zunehmend ungeliebte – Mehrleistung besteht. Stimmt, wir wurden „selektiert“. Circa fünf Prozent kamen zunächst zur „Erweiterten Oberschule“. Ja, ja, sehr artige und disziplinierte und linientreue Schüler darunter. Aber immerhin saß neben mir im Schulchor ein christlicher Arztsohn, der dann Theologie studierte. Sein Studium absolvierte er ebenso souverän wie alle anderen, die Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler und Lehrer wurden.

Als wir in diese Schule eintraten, hieß es nicht: Wunderschön, daß ihr endlich alle da seid. Ihr werdet sehen, wie lust- und freudvoll wir hier alle zum Abitur kommen. Im Gegenteil: Ihr seid hier, weil wir von euch eine Menge erwarten. Strengt euch an, wir trauen euch zu, daß ihr höchste Herausforderungen meistert. Selbständig und motiviert! Ja, wir helfen, aber Ihr müßt Leistung bringen wollen. Wer nicht will, von dem trennen wir uns spätestens in zwei Jahren. Nachhilfeunterricht? Nie gehört.

Folge: zu wenig Ärzte, Ingenieure, Naturwissenschaftler

Ich denke, das war im Westen bis in die Achtziger hinein ähnlich. Sonst wurde „selektiert“, also dafür gesorgt, daß man einen anderen Weg nahm, der einem eher lag. Handwerker werden, Arbeiter sein, Krankenschwester oder Kindergärtnerin. Sehr ehrenwert, aber heutzutage offenbar auch schon als Kränkung geltend. Zu scheitern und dann weiterzumachen, darin lag früher eine der wertvollsten biographischen Erfahrungen. Heute soll das Scheitern in der Schule mittels ungedeckter Schecks vermieden werden. Das gerade neurotisiert!

Wer immerfort vom Streß an der Schule hört, dem empfehle ich – mindestens außerhalb Bayerns und Baden-Württembergs – die gründliche Beschäftigung mit Notenmaßstäben und Prüfungsanforderungen, u. a. mit den üblichen „Vorabhinweisen“, die zu Beginn der Sekundarstufe II schon mal klarstellen, was dann in etwa im schriftlichen Abitur thematisiert wird. Ganz zu schweigen vom Abrechnungs- und Benotungssystem, einer wohlwollenden Zahlenmystik, die noch jeden trägt, der mindestens physisch anwesend ist.

Wer politische Wunschvorstellungen in die Schule hineindekretiert, wird die Erfahrung machen, daß es irgendwann zu wenig Ärzte, Ingenieure, Naturwissenschaftler gibt. Das ist bereits der Fall! Obwohl die „Abi-Schnitte“ nie so gut waren wie heute, und obwohl es prozentual nie so viele Schüler gab, die zur Hochschulreife, nun ja, geführt werden. – Weshalb der Begriff des Gymnasiums – griechischen Ursprungs und von Humboldt in philologisch-humanistischer Gesinnung aufgenommen – nicht längst abgeschafft wurde, wundert mich ohnehin. Also kann es weiter heißen: Na, auch auf’m Gymmi, Alta? – Klar, wo denn sonst?

 

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