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Europäische Entscheidungsschlacht?

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Erwartungsgemäß wenig hatte die „Europa-Rede“ des Bundespräsidenten zu bieten: die üblichen Bekenntnisphrasen zu „Europa“, salbungsvoll verpackte Durchhalteparolen, politpastorales Geschwätz – bis auf eine Ausnahme: Gauck vermißt einen europäischen Gründungsmythos.

„Wir haben bis heute keinen Gründungsmythos nach Art einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität bewahren konnte.“

Diese Klage macht hellhörig, gelten politische Mythen in einer Gesellschaft, die sich auf das Erbe der Aufklärung beruft, sonst eher als überflüssig, simplifizierend – da sie die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse auf bestimmte Urereignisse und Urväter hin zuspitzen –, patriarchalisch und bluttriefend, als Legitimationsstrategien bestehender Herrschaftsverhältnisse, zumindest reaktionär, wenn nicht gar faschistisch. Anders als in den USA, Frankreich oder der Schweiz, wo man sich auf die founding fathers und deren Amerikanischen Traum, die Französische Revolution oder den Rütlischwur beruft, hat man in Deutschland die aufgrund des vielschichtigen Erbes einer alten, auf mannigfache Traditionen begründeten Nation so zahlreichen Mythen von Herrmann, Karl und Widukind, Barbarossa, den Nibelungen oder den Befreiungskriegen gegen Napoleon, da im Nationalsozialismus mißbraucht, offiziell ausgemerzt.

Glaubhafte Mythen sind rar

Andererseits hat sich doch, außer bei einigen „Diskursethikern“ (die dafür das Grundgesetz als vom Himmel gefallen mythisieren), die Erkenntnis verbreitet, daß politische Gebilde ohne gemeinsame Mythen auseinanderfallen, weshalb man nach 1945 sowohl von „amtlicher“ als auch von subkultureller Seite aus diverse Leim- und Klebemythen anbot, die allesamt jedoch schnell eingetrocknet sind und nicht recht halten wollten: Das „Wirtschaftswunder“ war eine rein ökonomische Angelegenheit; die Wiedervereinigung wurde, nach kurzer Schockstarre der Linken sowie der „europäischen Partner“, sofort in das EU-Projekt der deutschen Einbindung und Euro-Umverteilung hineingesogen; die 89er-Generation blieb eine erfolglose Idee weniger Rechtsintellektueller – im Gegensatz zum destruktiven Mythos der Achtundsechziger, gegen die sie sich richtete.

Andere Ereignisse, die sich mit bestimmten Jahreszahlen verbinden, sind verblaßt und waren nie wirklich traditionsstiftend (etwa 1848) oder sind allzu willkürlich und dem Empfinden der Menschen widersprechend zurechtgedeutet worden (1945 als „Jahr der Befreiung“). Wieder andere Versuche der Mythengründung blieben weitgehend auf rechte (Stalingrad und Dresden) oder konservative Kreise (20. Juli 1944) beschränkt und verbinden sich zudem mit Niederlage, Zerstörung und Scheitern. Die absurdeste Idee war der Versuch des früheren Außenministers Fischer, die heutige deutsche Identität an Auschwitz festmachen zu wollen – zumal wenn man erwartet, daß Menschen aus aller Welt an solchem, von Selbsthaß zerfressenem Wesen „genesen“ sollen.

Neben dem Feuilleton-Geschwätz nehmen sich die wirklichen deutschen Mythen anders aus: Sie sind vom Alter geweiht, tragen durch lange literarische und vorangegangene mündliche Überlieferung, Weiter- und Umdichtung ein organisches und bei aller Schönheit nicht artifizielles Gepräge, suchen nicht die Übereinstimmung mit irgendwelchen „Fakten“, sondern fassen die großen Züge, unbekümmert um Details, in archetypischen Bildern zusammen, spiegeln wesentliche Facetten des Nationalcharakters (wie das Wahrheitspathos Fausts oder Luthers) und wirken tatsächlich identitätsstiftend – wenn man diese Identität noch in sich fühlt und annehmen will.

Europa lebt von verbindenden und trennenden Mythensträngen

Freilich handelt es sich, auch bei anderen Völkern, oft um kriegerische Mythen von Feinden und Entscheidungsschlachten – aber solche wünscht sich der Bundespräsident ja neuerdings und ungewohnterweise. Ach ja, es sollen ja jetzt europäische, nicht nationale Mythen sein.

Liest man Gaucks Äußerung, reibt man sich also die Augen und denkt an die Belagerung Wiens oder an Tours und Poitiers. Vermutlich hat der Bundespräsident diese Schlachten aber nicht gemeint. Was bleibt noch an europäischen Mythen? Das römische Imperium, das wir uns nur auf einer oberflächlichen Staats- und Bildungsebene anverwandelten, da wir Deutschen – wenn wir am deutschesten waren – doch antirömische Cherusker und Protestanten gewesen sind; halbvergessene antike Bildungsgüter; das Christentum, das nicht aus Europa stammt, über Europa hinausgreift und in Europa schwindet; und schließlich die Zeugnisse der Vorgeschichte, die sich im Dunkeln verlieren. Auch der gemeinsame Ursprung der europäischen Völker wurde vorgeschlagen, was dann aber genannt wird, ist Biologie oder Linguistik.

Gibt es also keinen europäischen Gründungsmythos? Ganz sicher keinen EU-Mythos, wie er Gauck vorschwebt, keine „große Erzählung“ von alten (oder neuen?) Schlachten, die doch nur bestellte Propaganda wäre – wohl aber viele Mythenstränge, in denen sich Verwandtes spiegelt, von der Edda über Homer bis zum Rig-Veda, und Fremdes trennt: an den Thermopylen oder in Neukölln. Und manche Mythen werden erst noch geschrieben und erzählt.

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