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„Schildkrötenpanzer“ und Raketen: Ukraine-Front: Star Wars trifft Ersten Weltkrieg

„Schildkrötenpanzer“ und Raketen: Ukraine-Front: Star Wars trifft Ersten Weltkrieg

„Schildkrötenpanzer“ und Raketen: Ukraine-Front: Star Wars trifft Ersten Weltkrieg

Im Ukraine-Krieg sind Schützengräben und befestigte Unterstände unverzichtbar für die Verteidiger.
Im Ukraine-Krieg sind Schützengräben und befestigte Unterstände unverzichtbar für die Verteidiger.
Im Ukraine-Krieg sind Schützengräben und befestigte Unterstände unverzichtbar für die Verteidiger Foto: picture alliance / Anadolu | Wolfgang Schwan
„Schildkrötenpanzer“ und Raketen
 

Ukraine-Front: Star Wars trifft Ersten Weltkrieg

Der Ukraine-Krieg führt mit seinem Verschleiß von Menschen und Material zu improvisierten Notlösungen, wie Panzer-Umbauten der Russen zeigen. Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Erstem Weltkrieg und Hight Tech erläutern zwei Militärexperten im Gespräch mit der JF.
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Die Aufnahmen, die vor einigen Tagen in Social-Media-Kanälen zum Ukraine-Krieg die Runde machten, riefen unweigerlich Assoziationen zum Ersten Weltkrieg hervor. Da rollte beispielsweise bei Krasnohoriwka ein Ungetüm auf die ukrainischen Stellungen zu, das mehr an einen A7V-Panzer des deutschen Kaiserreichs denn an einen modernen Kampfpanzer erinnerte.

Wahlweise als „Blyatmobil“, „Ork-Panzer“ oder „fahrende Panzergarage“ tituliert, verfehlte es seinen Zweck jedoch nicht. So konnten die Russen trotz Beschuß mit Streumunition Infanterie übers Schlachtfeld transportieren. Das Auftauchen so einer Konstruktion war für den Militärexperten und leitenden Mitarbeiter des internationalen Sicherheitsunternehmens Global AG, Alexander Jag, kein Zufall. Es sei dem Mangel an panzerstörender Munition der Ukrainer geschuldet gewesen.

„Der Panzer ist gegen FPV-Drohnen (First-Person-View-Drohnen) geschützt und auch gegen Streumunition und ungelenkte Artillerie“, führt Jag gegenüber der JUNGEN FREIHEIT aus. Sein Unternehmen ist auf Seiten Kiews am Krieg beteiligt.

„Schildkrötenpanzer“ hat Einschränkungen

Der Militärexperte und YouTuber Torsten Heinrich sieht in dem „Schildkrötenpanzer“ noch einen anderen Zweck. „Der Sinn ist dabei wohl vor allem, eine Minengasse für die folgenden Fahrzeuge zu schlagen. So hatte beispielsweise das Exemplar in Krasnohoriwka einen Minenroller“, analysiert er für die JF den Einsatz und weist zugleich auf die Nachteile der Konstruktion mit der zusätzlichen Rundumpanzerung hin. „Der Kommandant kann seine Umgebung nicht mehr wahrnehmen, die Kanone kann nur noch einen kleinen Winkel nach vorne schießen und beim Rückzug, der bei den T-Panzern nicht im Rückwärtsgang geht, ist das Fahrzeug wehrlos, da die Kanone vom Feind weggerichtet ist. Für Angriffe sind diese Fahrzeuge also vor allem als Minenräumer zu gebrauchen, nicht aber für effektiven Panzerkrieg.“ Die Schutzwirkung, die offenbar durch Wellblechplatten erreicht werden soll, wirke wie Schürzen, die Hohlladungen vor der eigentlichen Hülle des Panzers auslösen sollen, erklärt Heinrich.

Daß diese vermeintliche Verbesserung aus dem Low-Tech-Bereich auch eine gegenteilige Wirkung haben kann, veranschaulicht Jag am Beispiel der Panzerminen. „Das Gerät ist nicht unzerstörbar. Wenn es auf eine Panzerabwehrmine fährt, ist es sogar noch schlimmer, weil der Druck von der zusätzlichen Panzerung einbehalten wird.“

Die Gefahr, daß Rußland mit einem konzentrierten Angriff von zehn bis 20 dieser stählernen Schildkröten einen Durchbruch erzielen und damit die Front aufrollen könnte, sehen beide Militärexperten nicht gegeben. Neben der Anfälligkeit durch Minen und effektive Abwehrwaffen verweisen sie auf die massiven Mängel durch die eingeschränkte Sicht und Beweglichkeit der Kanone. Heinrichs Prognose zur Zukunft dieser Panzer lautet: „Mich würde wundern, wenn wir sie in einem halben Jahr noch im Einsatz sehen.“

Kreml sei mit Leistung der eigenen Panzer unzufrieden

Jag gibt dem Panzer noch weniger Zeit. Mit der unlängst erfolgten Genehmigung weiterer Ukraine-Hilfen durch die USA sei dessen Zeit bereits abgelaufen. „Denn wenn wieder die benötigte Munition bei den Ukrainern eintrifft, ist es zu spät für diese Panzer.“ Gegen schultergestützte Panzerabwehrwaffen wie Javelins, NLAW oder RPGs habe auch so ein Stahlungetüm schlechte Karten. Da die nun von Washington freigegebenen Munitionsvorräte bereits in Europa eingelagert seien, könnten sie die Front bereits in der kommenden Woche erreichen und den Spuk beenden.

Zudem sei damit zu rechnen, daß Moskau im weiteren Kriegsverlauf mehr auf Gleitbomben und Raketenbeschuß setzen werde, um die ukrainischen Verteidiger zurückzudrängen. Denn im Kreml sei man mit der Leistung der eigenen Panzertruppe alles andere als zufrieden.

Doch von raumgreifenden Vorstößen ist derzeit in der Ostukraine nichts zu sehen. Bereits seit den vergangenen Kriegswintern erinnern die völlig verschlammten Schützengräben dort eher an die Westfront des Ersten Weltkriegs. Da seit mehreren Monaten weder Kiew noch Moskau großräumige Geländegewinne erzielen konnten, verfestigen sich die Frontlinien; man gräbt sich weiter ein.

Ausbau der Verteidigungsstellungen „ist völlig normale Reaktion“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj veröffentlichte Mitte April auf X ein Video von den laufenden Bauarbeiten an Verteidigungsstellungen. Die betonverstärkten Schützengräben, Betonbunker mit Schießscharten und Unterstände sollen drohende Frontdurchbrüche der Russen aufhalten. Heinrich sieht diese Maßnahmen als dringend geboten: „Welche Alternative hat die Ukraine ohne ausreichend Manöverkräfte, die eine bewegliche Verteidigung führen können? Am Ende ist der Soldat im betonverstärkten Graben immer noch besser dran als auf der Wiese liegend.“ Aber auch die neuen Stellungen werden seiner Überzeugung nach durch Gleitbomben unter Druck geraten.

Der Aus- und Aufbau der Stellungen ist für Jag alternativlos. „Da die Ukraine im Hinterland über keine geographischen Barrieren verfügt, erzeugt sie die nun durch Verteidigungsanlangen.“ Rußland könne zwar die Zivilbevölkerung mit Drohnen und Marschflugkörpern terrorisieren, „aber am Ende des Tages muß Geographie überwunden werden“.

Indem Kiew auf Verteidigungssysteme setzt, die an die Siegfriedlinie im Ersten Weltkrieg erinnern, ist es nicht allein, gibt Jag zu Bedenken. „Auch Polen, Finnland und die baltischen Staaten verstärken sich entsprechend. Das ist in der aktuellen politischen Situation eine völlig normale Reaktion.“

„Lieber in bewegliche Kräfte investieren“

Für den Militär-YouTuber Heinrich verbietet sich allerdings angesichts solcher Bilder aus der Ukraine, an Deutschlands Grenzen Ähnliches bauen zu wollen. Ein Anlegen von Befestigungen wäre defätistisch und auch aus Bündnissicht sehr schädlich, warnt er. Weil man beispielsweise Polen sagen würde: „Wir werden euch im Ernstfall übrigens aufgeben.“

Hinsichtlich eines möglichen Krieges der Nato gegen Rußland folgt daraus für Heinrich, deutsche Truppen sollten gemeinsam mit den Verbündeten Moskaus Armeen vor der Grenze der Bundesrepublik stoppen. Deutschlands beschränkte Mittel sollten „lieber in bewegliche Kräfte investiert werden als in Grenzbefestigungen“.

Ukraine ist Schlachtfeld von alter und neuer Kriegsführung

Pessimistisch zeigt sich der Vertreter der Global AG mit Blick auf die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik. „Deutschland verliert verteidigungspolitisch den Anschluß. Es wird so wahrscheinlich zur Regionalmacht, die sich militärisch auf seine Nachbarn verlassen muß.“ Dazu sollte es seine Partner Polen, Tschechien und andere Anrainerstaaten unterstützen.

So werden in Osteuropa neue Befestigungsanlagen aus dem Boden gestampft, über den historisch anmutende Stahlkolosse rollen. Das geschieht in einem Krieg, bei dem ferngesteuerte Drohnen jederzeit aus der Luft zuschlagen können und das Schlachtfeld mit Kameras überwacht wird. Diese paradoxen Umstände faßt Jag mit einem popkulturellen Vergleich zusammen. „Für militärhistorisch Interessierte mag das anmuten wie eine Mischung aus Erster Weltkrieg und Star Wars, für Brettspielbegeisterte wie Erster Weltkrieg trifft Warhammer 40k.“

Im Ukraine-Krieg sind Schützengräben und befestigte Unterstände unverzichtbar für die Verteidiger Foto: picture alliance / Anadolu | Wolfgang Schwan
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